Wien. Österreichs Kanzler über die Bedeutung der Bundestagswahl, die Aufnahme von Flüchtlingen – und die Skisaison im nächsten Corona-Winter.

Die Welt schaut auf Berlin und die Bundestagswahl – auch von Wien aus. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sagt im Interview mit unserer Redaktion und der französischen Partnerzeitung „Ouest-France“, welche Entwicklungen er fürchtet.

Herr Bundeskanzler, was hat Sie an diesem Wahlkampf in Deutschland am meisten überrascht?

Sebastian Kurz: Wir verfolgen den deutschen Wahlkampf mit großem Interesse. Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner und der wichtigste Wirtschaftsmotor in ganz Europa. Ich kann und werde nicht jedes Detail des Wahlkampfs kommentieren, aber als Christdemokrat wünsche ich mir, dass es auch in Zukunft ein bürgerlich geführtes Deutschland gibt. Daher unterstütze ich die Union mit Armin Laschet.

Wie erklären Sie sich den Absturz Ihrer christdemokratischen Schwesterpartei in den Umfragen?

Kurz: Von Umfragen halte ich relativ wenig. In einem Wahlkampf sind niemals die Umfragen und auch nicht die mediale Berichterstattung entscheidend, sondern am Ende des Tages das Ergebnis. Die Entscheidung wird am Wahlsonntag von den Wählerinnen und Wählern getroffen.

Sie haben die ÖVP nach schwerer Krise als Volkspartei wiederbelebt. Was können CDU und CSU von Ihnen lernen?

Kurz: Ich glaube, dass die Situation überhaupt nicht vergleichbar ist. In Österreich versuchen wir tagtäglich, bestmögliche Arbeit für unser Land zu leisten: Wir tun alles, um unseren Wirtschaftsstandort zu unterstützen, weil das die Basis für Arbeitsplätze und Einkommen ist. Wir gehen den Weg der Steuerentlastung konsequent voran, damit den arbeitenden Menschen mehr zum Leben bleibt.

Wir haben auch eine klare Linie in Migrations- und Sicherheitsfragen. Es ist sehr relevant, wer hier in Österreich lebt – und woran die Menschen, die hier leben, glauben. Das Zusammenleben kann nur dann funktionieren, wenn wir nicht mehr Menschen aufnehmen, als wir auch integrieren können.

Angela Merkel verlässt die politische Bühne. Werden Sie die Kanzlerin vermissen?

Kurz: Angela Merkel hat Deutschland und Europa massiv geprägt. Sie ist definitiv eine der erfahrensten Politikerinnen in Europa und darüber hinaus. Ich habe bei ihr immer geschätzt, dass sie diesen breiten Erfahrungsschatz in alle Diskussionen eingebracht hat. Inhaltlich gab es sehr viele Themen, wo wir an einem Strang gezogen haben.

Natürlich gab es auch Themen, wo wir unterschiedlicher Meinung waren, aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass es eine gute Zusammenarbeit war. Das wollen wir auch in Zukunft so pflegen.

Österreichs Kanzler Kurz würdigt Merkels Verdienste

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    Olaf Scholz präsentiert sich als legitimer Erbe der Kanzlerin, lässt sich sogar mit Merkel-Raute fotografieren. Wie gut kennen Sie den SPD-Kanzlerkandidaten?

    Kurz: Ich habe ihn kennengelernt schon in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister. Ohne zu sehr in die Details des Wahlkampfs einzusteigen: Es ist klar, dass nicht nur Personen zur Wahl stehen, sondern Parteien, deren Programme und somit auch Geisteshaltungen. Mir sind Grundwerte wie Freiheit, Leistung und Eigenverantwortung sehr wichtig. Darum kämpfen traditionell bürgerliche Parteien. Das ist nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Europäische Union sehr relevant.

    Eine Linkskoalition würde ein anderes Deutschland und ein anderes Europa bedeuten – diese Warnung haben Sie schon bei einer Vorstandssitzung der Europäischen Volkspartei ausgesprochen. Wie kommen Sie darauf?

    Kurz: Seit vielen Jahren bin ich in alle Debatten auf europäischer Ebene involviert. Es gibt ganz große Grundsatzdebatten, wo Deutschland die stärkste Stimme hat: Tun wir als Europäische Union alles, um weiter wettbewerbsfähig zu bleiben, oder konzentrieren wir uns immer mehr auf Verteilung? Es geht um die Frage, ob wir zu einer Schuldenunion werden, in der die Steuerzahler in wohlhabenderen Ländern wie Deutschland und Österreich die Schuldenlast anderer übernehmen.

    Eine Vergemeinschaftlichung der Schulden wäre der Anfang vom Ende jeder ordentlichen Budgetpolitik in den Mitgliedstaaten. Das sind massive Grundsatzentscheidungen für die Zukunft der Europäischen Union. Ich bin mir sicher, dass eine Linkskoalition in Deutschland ganz Europa schaden würde.

    Sie selbst haben mit der rechtspopulistischen FPÖ regiert. Halten Sie das für weniger problematisch?

    Kurz: Ich bewerte ja nicht die Auswahl von Koalitionspartnern, sondern kann nur sagen: Jeder hat seine inhaltlichen Überzeugungen. Meine Überzeugungen sind ganz andere als die der Linksparteien. Ich respektiere diese anderen Zugänge. Aber ich will auch versuchen, dass diese Ideen sich in Europa nicht durchsetzen.

    Ihre Koalition mit der FPÖ ist an der sogenannten Ibiza-Affäre zerbrochen, die Österreich noch immer in Atem hält. Auch gegen Sie laufen Ermittlungen, es geht um den Verdacht der Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss. Was gibt es Neues von der Justiz?

    Kurz: Die Ermittlungen, die aufgrund einer Anzeige der Sozialdemokratie gegen mich gestartet worden sind, haben mit Ibiza überhaupt nichts zu tun. Es geht um eine Aussage in dem Untersuchungsausschuss, wo jetzt darüber diskutiert wird, ob eine doppelte Verneinung eine Bejahung bedeutet. Ich glaube, dass es nicht förderlich ist, wenn die Justiz missbraucht wird für den politischen Wettbewerb. Politik sollte der Wettbewerb der besten Ideen und nicht der besten Anzeigen sein.

    Einen Rücktritt schließen Sie weiter aus – auch wenn Anklage erhoben wird?

    Kurz: Ich gebe schon zu, dass ich überrascht war, dass auch in Österreich mehr und mehr Politik über die Justiz gemacht wird. Das ist für ein politisches System nicht gut. Aber ich werde mich davon sicher keinen einzigen Tag beeinträchtigen lassen.

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    Halten Sie die österreichische Justiz für manipulierbar?

    Kurz: Wir haben in Österreich 17 Staatsanwaltschaften, von denen 16 noch niemals öffentlich kritisiert worden sind. Wir haben ein gut funktionierendes System in vielen Bereichen. In einer pluralistischen Gesellschaft gehört es dazu, dass auch Kritik möglich sein muss. Nach meinen Erlebnissen lege ich meine Meinung dar. Und es gibt viele Menschen, die nicht nachvollziehen können, warum solche Vorwürfe erhoben werden, was diese Vorwürfe in den Medien zu suchen haben und was das am Ende alles bringen soll.

    Die Menschen fragen sich vor allem, wann die Corona-Krise vorbei sein wird. In Österreich liegt die Inzidenz mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Welchen Ausblick geben Sie auf die nächste Wintersaison?

    Kurz: Der Ausblick ist gut. Wir haben eine sehr erfolgreiche Sommersaison gehabt mit sehr vielen Gästen aus Deutschland. Wir setzen auf das Konzept des sicheren Tourismus und arbeiten schon jetzt mit der 3G-Regel. Zutritt in Gastronomie oder Hotellerie ist nur für Geimpfte, Genesene und Getestete möglich. Wir sind unter den Weltführern bei den Tests. Wir werden mit klaren Regeln für eine sichere Wintersaison sorgen.

    Können Skifahrer wieder auf der Hütte ihre Gulaschsuppe essen?

    Kurz: Selbstverständlich werden die Hütten auf den Pisten wieder geöffnet sein. Der große Unterschied zum letzten Winter ist die Impfung. In Österreich sind über 70 Prozent der impfbaren Bevölkerung geimpft. Die überwiegende Masse der Touristen, die zu uns kommen wollen, sind ebenfalls geimpft. Insofern steht einem sicheren Urlaub in Österreich nichts im Wege.

    Von dem Tiroler Skidorf Ischgl aus hat sich die Corona-Pandemie fast über ganz Europa verbreitet. Schließen Sie aus, dass sich so ein Ereignis wiederholt?

    Kurz: Wir haben klare Konzepte. Bei steigender Belastung durch die Pandemie wird es in der Nachgastronomie - also beim Après-Ski - nur noch Zugang für Geimpfte geben. Anmerken möchte ich noch, dass die überwiegende Masse unserer Touristen nach Österreich kommt, um Sport zu machen, die Landschaft zu genießen, die Gastfreundschaft und die gute Küche zu erleben.

    Mit der Impfquote - die noch unter der deutschen liegt - können sich Sie nicht zufrieden geben. Haben Sie eine Idee, wie sich der Impffortschritt beschleunigen lässt?

    Kurz: Es ist definitiv notwendig, dass sich noch mehr Menschen impfen lassen. Leider haben wir in Österreich keinen Schulterschluss aller politischen Parteien. Mit der FPÖ gibt es eine starke Partei, die massiv gegen die Impfung kampagnisiert und Gerüchte streut, die leider Gottes von vielen Menschen geglaubt werden - zum Beispiel, dass man nach der Impfung keine Kinder mehr bekommen kann. Wir müssen aufklären, damit sich die Menschen von diesen Unwahrheiten nicht verunsichern lassen.

    Aufklärung allein wird nicht reichen.

    Kurz: Unser Zugang ist: So viel Freiheit wie möglich, aber auch so viel Einschränkung wie notwendig. Bevor es Schließungen für alle gibt, muss es Einschränkungen für Ungeimpfte geben. Das wird auch dazu führen, dass sich einige doch noch für die Impfung entscheiden.

    Sebastian Kurz in seinem Wiener Amtssitz mit den Redakteuren Jörg Quoos, Sébastien Vannier und Jochen Gaugele (im Uhrzeigersinn).
    Sebastian Kurz in seinem Wiener Amtssitz mit den Redakteuren Jörg Quoos, Sébastien Vannier und Jochen Gaugele (im Uhrzeigersinn). © Alex Halada | Alex Halada

    In Europa werden Sie scharf kritisiert, weil Sie keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen wollen. Warum schließt sich Österreich der Koalition der Hilfsbereiten nicht an?

    Kurz: Erstens: Österreich ist kein Nato-Staat. Wir hatten keine Truppen in Afghanistan, die Ortskräfte angestellt hätten, und auch keine Botschaft in Kabul. Daher sind wir in einer anderen Situation, wenn es um die Rettung von Ortskräften geht. Zweitens: Was die Hilfe vor Ort betrifft, ist Österreich im absoluten Spitzenfeld. Wir haben 20 Millionen Euro in die Hand genommen, um humanitäre Hilfe für Afghanistan und die Region zu leisten.

    Wir haben bereits jetzt in Österreich – pro Kopf gerechnet – die viertgrößte afghanische Gemeinschaft weltweit mit über 40 000 Afghanen. Viele von ihnen sind gut integriert, aber wir haben auch große Probleme. 60 Prozent der afghanischen Jugendlichen in Österreich sagen, es ist in Ordnung, Gewalt einzusetzen, wenn die eigene Religion beleidigt wird. Wir haben die klare Haltung, dass wir nicht mehr Menschen aufnehmen wollen, als wir integrieren können.

    Die Taliban haben Afghanistan überrannt. Ist die Aufnahme von Flüchtlingen da nicht ein Gebot der Menschlichkeit?

    Kurz: Ich finde es nicht sonderlich gerecht, wenn diese Kritik von Staaten kommt, die deutlich weniger Menschen aufgenommen haben in der Vergangenheit als wir. Schauen Sie sich die Situation in anderen Ländern an. Selbst der sozialdemokratische Regierungschef von Schweden, der vor Jahren noch für offene Grenzen eingetreten ist, lehnt eine weitere Aufnahme ab. Nicht, weil er seine Menschlichkeit verloren hat, sondern weil er eine Verantwortung gegenüber seinem eigenen Land verspürt.

    Hintergrund: Ramstein: Viele Flüchtlinge aus Afghanistan wollen bleiben

    Haben Sie eine Vorstellung, wie die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa gerecht organisiert werden kann?

    Kurz: Die Situation ist heute besser als 2015. Damals haben Politiker Äußerungen getätigt, die dazu geführt haben, dass sich sehr viele Menschen auf den Weg nach Europa gemacht haben. Europäische Gelder sind investiert worden, um Migranten möglichst schnell von Griechenland bis nach Österreich und Deutschland weiterzutransportieren, damit sie hier einen Asylantrag stellen.

    Heute wird dieses Geld verwendet, um die Außengrenzen zu schützen und gegen die illegale Migration quer durch Europa anzukämpfen. Aber Sie haben recht: Das Thema ist noch lange nicht gelöst.

    Was schlagen Sie vor?

    Kurz: Wir brauchen einen konsequenten Schutz der Außengrenzen – und Unterstützung für Staaten an der Außengrenze wie Bulgarien, Griechenland oder Litauen, die bereit sind, ihre Grenzen zu schützen. Außerdem bauchen wir eine enge Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsländern und den klaren politischen Willen: Menschen, die fliehen, sollten in der Nachbarschaft untergebracht werden und nicht automatisch nach Europa weiterziehen.

    Europäische Flüchtlingskontingente sind mit Ihnen nicht zu machen?

    Kurz: Wenn ein Land bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, ist es eine souveräne Entscheidung dieses Landes. Ich verstehe nur nicht, warum uns irgendjemand vorschreiben sollte, wie viele Flüchtlinge wir aufzunehmen haben.

    Die Taliban fordern von den Europäern diplomatische Anerkennung und finanzielle Unterstützung. Was antworten Sie?

    Kurz: Wir unterstützen die Menschen in Afghanistan, aber sicher nicht die Taliban. Ich tue mich auch sehr schwer mit der schnellen Bereitschaft mancher, die Zusammenarbeit mit den Taliban zu suchen. Das Vorgehen der Taliban ist grausam, ihr Umgang mit Frauen absolut inakzeptabel. In bin in meiner Haltung, was politischen Islam angeht, sehr entschlossen.

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    Das Emirat Katar unterstützt die Taliban in großem Stil. Kann dort die nächste Fußball-WM stattfinden, als sei nichts geschehen?

    Kurz: Ich würde schon unterscheiden zwischen den Taliban und anderen Regierungen dieser Welt. Aber klar ist für uns: Jede Form der Terrorunterstützung ist inakzeptabel.