Berlin. Das Bundesarbeitsgericht spricht ein wegweisendes Urteil: Pflegern und Pflegerinnen wie aus Bulgarien oder Polen steht Mindestlohn zu.
Die Frau war bettlägerig, über 90 Jahre alt, sie brauchte rund um die Uhr Betreuung. Morgens fing es mit Waschen und Anziehen an, Frühstück machen, später einkaufen, kochen, die Wohnung sauber machen, zwischendurch Windeln wechseln, Medikamente geben. Wieder kochen, die Dame betreuen und zu Bett bringen. Die Pflegerin aus Bulgarien war rund um die Uhr beschäftigt. Dabei wurde sie nur für 30 Stunden pro Woche bezahlt.
Dagegen hat sie geklagt. Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht ausgehend vom Fall der bulgarischen Pflegerin ein wegweisendes Urteil gesprochen: Nach Deutschland vermittelte ausländische Pflege- und Haushaltshilfen, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, haben einen Anspruch auf Mindestlohn.
Der Mindestlohn gelte auch für Bereitschaftszeiten, in denen die zumeist aus Osteuropa stammenden Frauen Betreuung auf Abruf leisteten, urteilten die höchsten deutschen Arbeitsrichter. „Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten“, sagte der Vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung.
Gericht: Pflegerin aus Bulgarien soll Nachzahlung erhalten
Bis zu 600.000 Frauen aus Bulgarien, Polen oder Tschechien arbeiten in deutschen Haushalten als Pflegende oder Betreuende schätzt das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität für den Bereich der häuslichen Betreuung beim DGB. „Die Pflegenden haben häufig keine Möglichkeit sich zu erholen, weil sie 24 Stunden an zehn Tagen die Woche zur Verfügung stehen müssen, die Arbeitsbedingungen sind häufig skandalös“, sagt Justyna Oblacewicz von Faire Mobilität.
Die Frau, die den Präzedenzfall ausgelöst hat ist eine heute 69-jährige Rentnerin aus Bulgarien. Sie hatte vor fünf Jahren die 90-jährige alte Frau an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden täglich in ihrer Berliner Wohnung betreut. Sie wurde über eine bulgarische Firma vermittelt.
Die Dame, die inzwischen wieder am Schwarzen Meer lebt, soll jetzt eine Nachzahlung erhalten. Die Höhe der Summe, die die „Sozialassistentin“ von der bulgarischen Firma bekommen soll, soll noch einmal vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg geprüft werden, entschieden die Bundesrichter.
Am Landesarbeitsgericht hatte die Bulgarin bereits geklagt. Sie verlangte für sieben Monate Arbeit im Jahr 2015 bei der Seniorin in Berlin rund 43.000 Euro brutto abzüglich bereits gezahlter knapp 7000 Euro netto. Die zuständigen Richter sprachen ihr Mindestlohn für 21 Stunden pro Kalendertag zu – die Arbeits- und Bereitschaftszeit wurde dabei geschätzt. Diese Entscheidung hat nach dem Urteil der Bundesarbeitsrichter keinen Bestand mehr.
Arbeitsverhältnisse mit großen rechtlichen Risiken
Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, begrüßt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt: „Es ist gut, dass es für die Bezahlung von Betreuungskräfte nun mehr Klarheit gibt“, sagte er unserer Redaktion. Viel zu wenig sei bisher in der Öffentlichkeit bekannt, dass die meisten dieser „Pflegesettings mit großen rechtlichen Risiken – unter Umständen bis hin zur Strafbarkeit – behaftet sind“.
Neben Fragen des Mindestlohns seien laut Westerfellhausen unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung nur einige der kritischen Punkte bei diesen Arbeitsvereinbarungen. Die 24-Stunden-Betreuung muss deshalb „zu einem Megathema der Politik“ werden.
Sozialverband: „Bankrotterklärung für ambulantes Pflegesystem“
Eher kritisch sieht Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, das Urteil: „Ich fürchte, nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte droht der häuslichen Pflege das Armageddon“, sagte Bentele.
Denn durch die Pflegereform, die am Freitag vom Bundesrat verabschiedet werden soll, würden „zuhause Gepflegte unter Strich weniger Pflegegeld“ bekommen. So werde die Entlastungspflege teurer und das Bundesarbeitsgericht schaffe mit seinem Urteil nun Fakten für die häusliche Pflege.
„Rund-um-die-Uhr Pflege ist nur noch mit Mindestlohn legal. Für die allermeisten wird sie damit unbezahlbar“, sagte die VdK-Präsidentin. Jahrelang sei ein drängendes Problem von der Politik ausgeblendet worden. „Das ist eine Bankrotterklärung für das ambulante Pflegesystem“, so Bentele weiter. Der Sozialverband VdK appelliere nun an den Bundesrat wenigstens die Pflegebedürftigen und deren Angehörige vor der Pflegereform zu schützen und sie an den Vermittlungsausschuss zu verweisen.
Die Bulgarin bezieht nur eine kleine Rente von 260 Euro, das erzählte sie in einem Interview „Deutschlandradio Kultur“. Doch das Geld reiche kaum zum Leben, obwohl sie ihr ganzes Leben gearbeitet habe, erst in der Tourismusbranche in Bulgarien, dann in Deutschland.
Die Bulgarin musste nachts die Zimmertür offen halten
„2013 ist mein Mann nach langer Krankheit gestorben. Und wir hatten kaum Geld. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. In Bulgarien hatte ich keine Möglichkeiten mehr. Also bin ich nach Deutschland gegangen und habe dort in der Pflege gearbeitet“, erzählte sie im Interview. Über die Agentur sei sie zuerst nach Koblenz, Köln und dann nach Berlin vermittelt worden.
Die Pflegerin hatte ein Zimmer in der Wohnung der Frau, damit sie auch nachts zur Verfügung stehen konnte. Die Tür zu ihrem Zimmer habe immer offen gestanden. „Ich habe der Familie dann gesagt, ich brauche auch mal Pausen, Zeit für mich. Da haben sie gesagt: Nein, das ist nicht vorgesehen.“
Die Agentur habe den Auftraggebern versichert, dass die Pflegerin immer das sei. Dafür bekam die Frau aus Bulgarien 950 Euro netto im Monat, weil nur 30 Wochenstunden im Vertrag ausgemacht waren. Im Nachhinein beschreibt die Bulgarin die Zeit in Berlin als „zermürbende Situation“. „Ich habe mich gefühlt wie jemand, der unter Freiheitsentzug steht. So war mein Alltag.“