Warum wir beim Impfen jetzt bloß nicht in Torschlusspanik verfallen sollten, kommentiert unser Politik-Korrespondent Miguel Sanches.
Die Grußformel dieser Tage lautet: „Bist du schon geimpft?“ Die Kampagne lief zäh an. Im zweiten Quartal jedoch wendet sich das Blatt. Die Frage ist, ob alle das auch so empfinden. Man muss aus der Endlosschleife der Meckerei herausfinden. Heute ist mit dem Impfen Realität, was vor einem Jahr bloß eine Hoffnung war. Dafür sollte man dankbar sein.
Wenn am 7. Juni die Priorisierung wegfällt, wird es ruppig, aber prinzipiell einfacher, unbürokratischer, da die Reihenfolge selbsterklärend ist: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ein Teil der Konflikte in Impfzentren und Arztpraxen rührte daher, dass nicht jedem klar war, wann er dran war. Nicht jeder, der unverrichteter Dinge wieder kehrtmachen musste, war ein Drängler; aber wohl jeder von ihnen hat Frust geschoben.
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Die Auslegung der Auflagen ist ein Quell des Ärgers. Trotzdem war die Priorisierung richtig. Am Umgang mit den Schwächsten erkennt man den Standard einer sozialen Gesellschaft. Ältere, Kranke und Behinderte wären ohne Priorisierung gewiss unter die Räder gekommen.
Je näher die Ferienzeit rückt, desto größer ist die Torschlusspanik
Entscheidend ist, dass die Effizienz der Stoffe beachtlich und ein Ende der Mangelverwaltung in Sicht ist. Tendenziell wird es mehr, nicht weniger Vakzine geben. Jedenfalls spricht alles dafür, weil weitere Impfstoffe vor der Zulassung stehen.
Da die Privat- und Betriebsärzte dazukommen, kann Deutschland auch logistisch Schritt halten. Die Bundeswehr impft im Saarland sieben Tage die Woche 24 Stunden lang, Tag für Tag 1000 Menschen, Hunderte tatsächlich nachts. Die Bundeswehr kann zulegen.
Die Ärzte machen einen guten Job, sie werden ordentlich bezahlt, aber die Praxen müssen viel aushalten und auffangen. Gerade der Juni wird hart, zumal es mitunter rüpelhaft und rücksichtslos zugeht. Je näher die Ferienzeit rückt, desto größer wird die eingebildete Torschlusspanik: Wir wollen die Impfung, und zwar sofort, vor dem Urlaub. Diese Rechnung wird nicht für jeden, nicht in jedem Fall aufgehen.
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Man kann gar nicht oft genug an die Geduld der Menschen appellieren, Rücksichtnahme einfordern und sie – wichtiger – vorleben. Das Gesundheitssystem wird bis zum Jahresende maximal gefordert sein, weil sich an derselben Drehtür viele unterschiedliche Gruppen drängen: Interessenten für die Erst-, Zweit- und bald Drittimpfungen.
Eine Facette der Rücksichtnahme ist der Respekt für die Minderheit, die nicht geimpft werden möchte. Ob es negative Langzeitwirkungen gibt, lässt sich schwer zweifelsfrei und endgültig klären. Am Ende trifft jeder Bürger seine Risikoabwägung. Von Impfzwängen oder -pflichten kann man nur abraten.
Der Druck ist schon groß genug. Wer sich nicht impfen lässt, wird in der Familie, im Betrieb, im sozialen Umfeld schnell die Erklärungszwänge spüren. Zudem hat der Staat zu Recht Anreize (keine Test- und Quarantänepflicht) für Geimpfte geschaffen. Das ist schon deswegen ein interessanter Ansatz, weil die Grundierung der bisherigen Corona-Politik eine andere war, nämlich Angst.
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Das Virus wird trotz Impfungen nicht verschwinden
Die übernächsten Herausforderungen werden psychologischer Natur sein: wieder Nähe zuzulassen, das einst „normale Leben“ nicht als klaustrophobische Enge zu empfinden, kurzum mit Corona leben wie mit anderen Krankheiten und Lebensrisiken. Nicht wenige wird es Überwindung kosten, wieder eine volle U-Bahn oder ein Flugzeug zu betreten.
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Der Status der Geimpften bietet zum Teil nur eine Scheinsicherheit. Keine Impfung garantiert einen hundertprozentigen Schutz, viele Menschen wollen nicht geimpft werden oder bauen keinen Immunschutz auf. Das Virus wird bleiben, schlimmstenfalls in einer gefährlicheren Variante. Und doch wird im Zuge der Impfkampagne klarer, dass das Glas nicht halb leer, sondern halb voll ist.