Brüssel. Die Bundestagswahl ist für die EU eine Zäsur, jetzt wächst die Unsicherheit. Besonders Baerbock hätte zunächst einen schweren Stand.

Mit Blick auf die Bundestagswahl im September hatte Ungarns Regierungschef eine dringende Bitte an Kanzlerin Angela Merkel: Sie solle bloß nicht abtreten, „denn wenn du nicht bleibst, wird das ein großes Problem für Europa werden“, hat Viktor Orbán nach eigener Schilderung der Kanzlerin gesagt. Vergeblich, wie man weiß. Doch Orbán ist nicht allein. Mit einiger Nervosität blickt Europa auf den bevorstehenden Wechsel in der Regierungszentrale des größten und zentralen EU-Staates.

Merkels Autorität wird fehlen. Was kommt danach? Immerhin, alle drei potenziellen Nachfolger sind überzeugte Europäer, wie in Brüssel nach den Nominierungen mit Genugtuung vermerkt wird.

Mit zwei Kanzlerkandidaten, Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD), dürfte der Kurs berechenbar bleiben. Die grüne Kandidatin Annalena Baerbock aber löst ein größeres Maß an Unsicherheit aus, nicht nur weil sie mangels Praxis und Netzwerk auf internationaler Bühne ein unbeschriebenes Blatt ist.

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Experten erwarten deutliche Kurswechsel unter einer Kanzlerin Baerbock

Medien auch im Ausland lieben zwar die Geschichte von der jungen Aufsteigerin – Diplomaten und politische Analysten in Brüssel und anderen Hauptstädten sind zurückhaltender. Mit Baerbock als Kanzlerin wäre der Bruch mit Merkels Kurs in der Europapolitik erheblich, urteilt Guntram Wolff, Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel.

Andere Experten wie Mark Leonard vom European Council on Foreign Relations sprechen gar von einer „samtenen Revolution“. Kein Zweifel, Baerbock ist eine Proeuropäerin, die sich in Berlin mit dem Europathema die ersten Sprossen ihrer steilen Karriereleiter baute. Ihr Fernziel ist die Föderale Europäische Republik, was in Brüssel manches Herz höherschlagen lässt.

Bundestagswahl: Die Kanzlerkandidaten

Annalena Baerbock tritt als Kanzlerkandidatin für die Grünen an.
Annalena Baerbock tritt als Kanzlerkandidatin für die Grünen an. © dpa | Kay Nietfeld
Baerbock ist die einzige Frau unter den Kandidaten und könnte die Nachfolgerin von Angela Merkel werden.
Baerbock ist die einzige Frau unter den Kandidaten und könnte die Nachfolgerin von Angela Merkel werden. © dpa | Kay Nietfeld
Mit Robert Habeck bildet Baerbock die Doppelspitze der Grünen.
Mit Robert Habeck bildet Baerbock die Doppelspitze der Grünen. © dpa
Die Union hat sich für Armin Laschet als Kanzlerkandidat entschieden.
Die Union hat sich für Armin Laschet als Kanzlerkandidat entschieden. © dpa | Kay Nietfeld
Laschet ist amtierender  CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident von NRW.
Laschet ist amtierender CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident von NRW. © FUNKE Foto Services | Reto Klar
Laschet konnte sich im Kampf um die Kandidatur gegen CSU-Chef Markus Söder durchsetzen.
Laschet konnte sich im Kampf um die Kandidatur gegen CSU-Chef Markus Söder durchsetzen. © dpa
Für die SPD tritt Olaf Scholz als Kanzlerkandidat an.
Für die SPD tritt Olaf Scholz als Kanzlerkandidat an. © dpa
Scholz ist als  Finanzminister bereits Teil der aktuellen Regierung.
Scholz ist als Finanzminister bereits Teil der aktuellen Regierung. © dpa
Zudem ist Scholz auch Vize-Kanzler von Angela Merkel.
Zudem ist Scholz auch Vize-Kanzler von Angela Merkel. © Getty Images | Pool
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Mit einer grünen Kanzlerin dürfte es mehr Konflikte in der EU geben

Aber wo Angela Merkels oberstes Prinzip der EU-Politik ist, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unbedingt zusammenzuhalten, stünde eine grüne Kanzlerin an vielen Stellen für Konflikt statt Konsens: Das reicht von einem schärferen Kurs im Streit über Rechtsstaatlichkeit in der EU über eine großzügigere Migrationspolitik, die auch ein Ende des Türkei-Paktes bedeuten würde, bis hin zur Ablehnung der bislang üblichen Handelsverträge mit Drittstaaten.

Die Erwartungen der Grünen sind bei vielen Themen gewaltig, Widerstände in vielen EU-Ländern aber absehbar. Der wichtigste Partner in Paris fürchtet um gemeinsame Verteidigungsprojekte und Konflikte bei der Atomenergie. Und bei zusätzlichen Anstrengungen für den Klimaschutz hätte Baerbock zwar Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an ihrer Seite, aber viele Mitgliedsländer gegen sich. Ein EU-Diplomat sagt: „Entweder provoziert Frau Baerbock Riesenärger in der EU – oder in ihrer Partei.“

Sicher ist das nicht, es gibt auch andere Perspektiven: Baerbocks Ankündigung, im Fall einer Amtsübernahme die Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen, könnte ihr bei der Mehrheit der EU-Staaten Beifall einbringen, in den USA natürlich auch. Aus Polen kommen deshalb schon sehr freundliche Signale. Generell würde sich Baerbock dafür einsetzen, dass Europa härter gegenüber Russland und China auftritt und stärker Verletzungen von Menschenrechten sanktioniert; Merkel hat da meist gebremst.

Laschet hält an Nord Stream 2 fest

An diesem Punkt bestehen wohl auch die größten Unterschiede zu Unionskandidat Laschet. Wenn es Kritik an ihm gibt, dann wegen angeblich zu großer Nachsicht vor allem gegenüber Russland, zum Beispiel weil der CDU-Vorsitzende eisern am Weiterbau von Nord Stream 2 festhält. Doch könnten sich die EU-Regierungschefs rasch mit Laschet als Mann des Ausgleichs arrangieren: „Es geht darum, die 27 Mitgliedstaaten zusammenzuhalten“, sagt er.

Auch in der Debatte zwischen Ost und West müssten Kompromisse gefunden werden. Biografisch ist Laschet vielen EU-Politikern nahe: Aufgewachsen in Aachen im Dreiländereck, war er von 1999 bis 2005 EU-Abgeordneter in Brüssel. Er pflegt als Ministerpräsident enge Beziehungen zu den Nachbarn, auch zu vielen anderen Regierungschefs.

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Zur Regierung in Paris sind die Kontakte besonders gut, nicht nur weil sich Laschet im Auftrag des Bundes um die kulturellen Beziehungen zu Frankreich kümmert; voriges Jahr traf er dreimal mit Präsident Emmanuel Macron zusammen. Einer der wenigen öffentlichen Kritikpunkte Laschets an Merkel war, dass sie zu zögerlich auf Macrons Reformideen reagiere.

Scholz gilt in Europa als einflussreiche Größe

Macron habe doch recht, meint Laschet, die Bürger wollten mehr Europa, etwa bei der inneren Sicherheit. Der Kandidat mit der größten Leistungsbilanz auf EU-Ebene ist aber qua Amt Olaf Scholz. Als Finanzminister und Vizekanzler ist er eine feste, einflussreiche Größe in Europa. Auch seine Drähte nach Frankreich sind eng, mit seinem Kollegen Bruno Le Maire fädelte er den gigantischen EU-Wiederaufbaupaket ein.

Scholz will im Bundestagswahlkampf mit Europathemen punkten, plädiert etwa für eine europäische Armee oder die Einführung gemeinsamer EU-Steuern. Die EU solle stärker zusammenwachsen, fordert er. „Wenn wir Europäer unser Schicksal selbst bestimmen wollen, müssen wir unsere Kräfte bündeln“, sagt der SPD-Politiker. In Brüsseler Ohren ist das ein solides Angebot, aber die deutschen Wahlumfragen werden auch hier aufmerksam verfolgt.

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