Hamm/Bonn/Dortmund. 1986, eine Woche nach Tschernobyl, werden in Bonn und am Kernreaktor in Hamm Menschen zusätzlicher Radioaktivität ausgesetzt.
Das Ereignis klebt in vielen Gehirnen wie Kennedymord, Mauerfall oder 9/11. Am 26. April 1986, vor 35 Jahren, explodierte das Kernkraftwerk Tschernobyl. Eine radioaktive Wolke zog über Europa. Sie erreichte das Rheinland und das Ruhrgebiet. Fast vergessen: Tage später kam es in Bonn und Hamm zu Fehlentscheidungen und Fehlgriffen im Umgang mit Radioaktivität. Waren sie gefährlich für die menschliche Gesundheit? Diese Geschichte handelt von 48 Stunden im Mai. In ihr spielen naive Regierungen, Behörden und vielleicht gedankenlose Bürger eine Rolle, Vertuschungen und Täuschungsversuche. Und ein anderer Zeitgeist.
Pripjat, 26. April 1986, 1.24 Uhr Ortszeit. Es ist nur ein Testlauf. Was passiert, wenn der Strom ausfällt? Kann Reaktor 4 auch mit einer Kühlung nur durch Notaggregate arbeiten? Die Ingenieure im Kernkraftwerk Tschernobyl in der noch sowjetischen Ukraine wollen es wissen. Der Test schlägt fehl. Nach eineinhalb Stunden entgleitet dem Leitstand die Kontrolle über die atomare Kettenreaktion. Es kommt zur Kernschmelze. Eine gewaltige Explosion zerlegt das Reaktordach. Radioaktivität steigt fast zwei Kilometer in die Höhe und verteilt sich über den Kontinent. Die sowjetische Führung verschweigt zunächst den GAU.
Düsseldorf, 28. April 1986, abends. In Düsseldorf schlägt ein Alarm aus Schweden auf. Die Schweden melden hohe Radioaktivität, ohne die Quelle orten zu können. Moskau gesteht einen kerntechnischen Unfall zwei Tage zuvor. Nordrhein-Westfalens Landesregierung weist Fachämter in Dortmund, Düsseldorf und Münster an, die Lage engmaschig zu beobachten. Ihr Ergebnis: Die Belastung in NRW ist von 2 Becquerel pro Kubikmeter Luft vor dem Unglück auf 70 Becquerel am Abend des 2. Mai 1986 angestiegen. Dabei hat Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) beruhigt. Gibt es eine Gefahr für Deutschland? „Nein“. Und: „Obwohl wir über keine genauen Informationen verfügen, ist die Lage bei uns unter Kontrolle.“
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Bonn, 3. Mai 1986, morgens. Lokale Medien veröffentlichen erste alarmierende Werte. Sehr hoch sind sie in Süddeutschland. Aber einsetzende Südostwinde brächten „Reste radioaktiver Strahlung“ auch nach NRW, zitiert die WAZ an diesem Samstag das Wetteramt Essen. „Harmlos“, so die Wetterfrösche. Dabei: In Essen hat sich die Radioaktivität verdreizehnfacht, in Aachen liegt sie 19 mal höher als normal.
Bonn, 3. Mai 1986, nachmittags. Der Tag hat in Bonn mit Sonnenschein begonnen. Zehntausende sammeln sich in der Rheinaue, um zu essen, zu trinken, Musik zu hören. Rita Süssmuth (CDU), die Gesundheitsministerin im Kabinett des Kanzlers Kohl, wirbt für ein langes Leben dank „Trimm Dich“. Am Abend soll hier das erste Großfeuerwerk seit Jahrzehnten abgehen, „Rhein in Flammen“. Mehrere hunderttausend Zuschauer werden erwartet. Es ist ein Wochenende, das die Nachrichten aus der 2000 Kilometer entfernten Ukraine schnell vergessen lässt. Zu schnell. Das Wetter schlägt um. Einige in der Menschenmasse sind offenbar konkreter über das Risiko an diesem Abend unterrichtet. Die Mehrzahl hat keinen blassen Schimmer.
Die Warnung. Dietmar Strehl ist heute Bremer Finanzsenator. Damals, in Bonn, war er junger Kommunalpolitiker und Geschäftsführer der grünen Ratsfraktion. 35 Jahre später formuliert er im Gespräch mit unserer Sonntagszeitung einen Vorwurf: „Es kam der Regen. Rotkreuzhelfer und Feuerwehrleute waren von der Stadt gewarnt worden. Sie sollten sich schützen. Die Besucher des Festes waren dagegen dem Regen und damit dem nachgewiesenen radioaktiven Niederschlag schutzlos ausgeliefert“.
Bonn, 3. Mai 1986, am späten Abend. Der Regen, an den sich Strehl heute erinnert, erreicht das Rheintal zum Einbruch der Dunkelheit, als die Feuerwerker die ersten Raketen zünden. Er wird zum Wolkenbruch, der radioaktiv aufgeladen ist. Eine strahlende Wetterfront. Die durch die Reaktorkatastrophe verseuchte Luftschicht ist binnen weniger Tage quer über Mitteleuropa gezogen und wird in ihrer Brisanz von deutschen Behörden völlig unterschätzt. Hunderte Helfer sichern das Feuerwerk-Festival ab. Zeugen berichten Jahrzehnte später dem Bonner Generalanzeiger, wie informiert viele Helfer waren. Axel Wolf, 1986 beim Technischen Hilfswerk Bühnentechniker: „Kollegen wurden angewiesen, mit kompletter Kluft unter die Dusche zu gehen, dann alles auszuziehen, die Wäsche zweimal zu waschen und sich selbst auch ordentlich abzuduschen“. Feuerwehr-Teams hatten die Empfehlung erhalten, möglichst in den Fahrzeugen zu bleiben. Der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation: „Im Straßenstaub wurden damals 3000 Becquerel gemessen. In unserer Organisation rechneten wir damit, dass die Veranstaltung abgesagt würde, weil nicht abzusehen war, welche Folgen der Regen haben würde“.
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Das Wochenende. „Rhein in Flammen“ wird nicht abgesagt. Folgen? Davon will keiner wissen. Hunderttausende genießen im heftigen Niederschlag das Feuerwerk und machen sich gegen Mitternacht triefnass auf den Heimweg. Stunden später kommt über den Rundfunk eine Empfehlung. Radioaktivität aus Tschernobyl sei mit Regenwolken übers Rheinland gezogen. Man solle sich gründlich duschen und Haare waschen. Strehl: „In den Tagen danach wurden wir zu Fachleuten von Becquerel“.
Die Belastung. In Becquerel wird der radioaktive Niederschlag gemessen. Wie viel Radioaktivität hat am Wochenende des 3. und 4. Mai 1986 das Land NRW tatsächlich erfasst? Drei Monate nach Tschernobyl nennt die Düsseldorfer Landesregierung Zahlen. Sie schockieren. „Der Regen am 3. und 4. Mai 1986 ergab in ganz NRW schlagartig eine Erhöhung der Radioaktivität am Boden und im Wasser. Auf dem Boden wurden in den folgenden Tagen bis zu 50.000 Becquerel pro Quadratmeter und im Rhein bis zu 50 Becquerel pro Liter gemessen“. 24 Stunden nach dem radioaktiven „Rhein in Flammen“ empfiehlt das Kabinett Schwangeren, Stillenden und Kindern, keine Frischmilch und Frischmilchprodukte zu verzehren. Dienstags folgt das Verbot, Salat und Spinat zu verkaufen und zu essen.
Ein zweiter Schauplatz. Am ersten Maiwochenende 1986 wird die Bevölkerung nicht nur in Bonn in Unkenntnis belassen. Im östlichen Ruhrgebiet steht in Hamm-Uentrop das Kernkraftwerk THTR 300. Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) hält die Bauart für die „sicherste Reaktorlinie“ überhaupt. Ausgerechnet Hamm wird in den nächsten Stunden zum Schauplatz eines zweiten radioaktiven Ereignisses.
Hamm, 4. Mai 1986, 15 Uhr. Der Regen aus Südost ist abgezogen. Die meisten der 600 Mitarbeiter des Hammer Atommeilers sind im Wochenende. Sonntagnachmittag kommt es zu einer Panne. Eine Graphitkugel zum Steuern der atomaren Kettenreaktion bleibt im Rohrsystem stecken. Kontaminiertes Gas strömt in eine Schleuse. Nach offizieller Darstellung steht ein Ventil offen. Ein Versehen. Radioaktiv belastetes Helium gelangt nach draußen.
Hamm, 4. Mai 1986, 21.44 Uhr. Die Aufsicht im Steuerraum des Reaktors schreibt eine Gefahrenmeldung: „Aktivitätskonzentration Aerosole am Kamin hoch“. Warnleuchten blinken. Aber das Kernkraftwerk bläst weiter Radioaktivität in die Luft. In der Nacht zum Montag wird die Anlage vorübergehend abgestellt.
Hamm und Düsseldorf, in den Tagen danach. Bei den Menschen wächst die Nervosität. Das „Bürgertelefon“ der Landesregierung mit 30 Apparaten steht nicht still, teils melden sich 10.000 Anrufer gleichzeitig. Die Werksleitung in Hamm will den Vorfall verschweigen. Ein Eintrag ins Störungsbuch unterbleibt. Doch es gibt einen bis heute anonymen Hinweisgeber. Infos gelangen an Umweltorganisationen und ins Umfeld der Landesregierung. Danach ist nach einem Ereignis Radioaktivität in der Umgebung des Hammer Reaktors aufgetreten, die nicht alleine mit Tschernobyl erklärbar ist. Als der NRW-Wirtschaftsminister am Mittwoch, 7. Mai, anruft, wehrt die Werksleitung allen Verdacht ab: nichts dran. Um Ärger mit der Politik zu verhindern, schickt sie am 12. Mai eine „Eilpost“ hinterher (Foto). Adressat: der Landtag. Die Kernsätze: „Die in der Umgebung des THTR 300 in Hamm-Uentrop festgestellte radioaktive Belastung von bis zu 50.000 Becquerel je Quadratmeter Boden ist ausschließlich durch das Reaktorunglück in Tschernobyl verursacht worden“. Ausschlaggebend seien die starken Regenfälle des 3. Mai gewesen. „Ein Zusammenhang der Messwerte mit dem Betrieb des Kernkraftwerks kann völlig ausgeschlossen werden.“ Das Freiburger Öko-Institut und der bekannte spätere Bochumer Mediziner und Radiologe Dietrich Grönemeyer glauben den Verfassern nicht. War die Messeinrichtung am Kamin zeitweise nicht in Betrieb? Sie starten eigene Messungen und ermitteln einen größeren Eigenanteil des THTR 300 an der nuklearen Bodenbelastung der Region.
Düsseldorf, Juni 1986. Ende Mai finden die Ministerialbeamten in der Landeshauptstadt die Erklärversuche der Reaktorleitung zunehmend „diffus“. Gleichzeitig meldet das Öko-Institut: Bei „mindestens 70 %“ der dem Tschernobyl-Desaster zuerst zugeordneten Radioaktivität in der Umgebung sei der deutsche Reaktor die Quelle. Eine „ausgemachte Sauerei“, ruft Arbeitsminister Hermann Heinemann (SPD). Sein Wirtschaftskollege Reimut Jochimsen (SPD) spricht von einem „unglaublichen Vorgang der Vertuschung“. Am 3. Juni verfügt die NRW-Regierung als atomrechtliche Aufsicht die Stilllegung des Meilers. Mitte des Monats darf der Kugelhaufen-Reaktor, dessen Haupteigner die Dortmunder Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) sind, nach baulichen und organisatorischen Veränderungen wieder angefahren werden.
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Nachspiel Bonn. „Wieso wurde ,Rhein in Flammen’ nicht abgesagt?“. Das fragt sich Strehls Parteifreund Roland Appel, 1986 in der Bonner Grünen-Organisation, später Fraktionschef im Landtag. 1986 „ging das einfach unter“, sagt Appel, „auch, weil über vieles zu spät informiert wurde“. So bleibt am Ende unscharf, wer in Bonn dafür sorgte, dass Helfer Informationen über Schutzmaßnahmen erhielten, nicht aber die Bürger. Zeitzeugen fehlt die Erinnerung. Für eine Absage des Open Air-Events bei überall im Land steigenden Radioaktivitätswerten wäre die Stadt zuständig gewesen. Chef der Verwaltung war Oberstadtdirektor Karl-Heinz van Kaldenkerken. Er verstarb 2020.
Nachspiel Hamm. Der Untersuchungsbericht des Landes zum Hammer Vorfall fällt vorsichtig aus. Die Freisetzung der Radioaktivität wird als „Betriebsstörung“ angesehen, nicht meldepflichtig. Sie sei „gering“ und kaum messbar gewesen, verursacht durch Fehlhandlung des Personals und eine „technische Fehlfunktion“. Doch im Frühjahr 2016, 30 Jahre nach dem Vorgang, lässt der 83-jährige Hermann Schollmeyer eine Bombe platzen. Der Mannheimer war 1986 im Auftrag des Herstellers Brown Boveri in Hamm tätig. In Interviews bestätigt er ein seit 1986 waberndes Gerücht: Dass die Radioaktivität in die Luft geblasen wurde, „das war Absicht“. Er konkretisiert: Im Werk sei länger darüber nachgedacht worden, „den Dreck“ im Rohrsystem loszuwerden. Die Werksleitung habe dann so entschieden, „wegen der Tschernobyl-Wolke würde das doch ohnehin niemand merken“. Schollmeyer: „Man hätte damals nur warten müssen. Filteranlagen waren schon bestellt. Aber man wollte den Reaktor nicht noch weitere zwei oder drei Wochen abschalten“. Andere Mitarbeiter weisen die Aussage scharf zurück. Auch die Landesregierung teilt 2016 mit, Schollmeyer habe keine weiteren Belege für seine Behauptung liefern können. Und: „Strafrechtliche Relevanz ist nicht mehr gegeben, da die Verjährung längst eingetreten ist“. Akte geschlossen.
Die Bilanz. Am 29. September 1989 wurde der Hammer Hochtemperaturreaktor nach nur 423 Betriebstagen (Verlust: 3,5 Milliarden D-Mark zu Lasten der Steuerzahler) endgültig stillgelegt. Frühestens 2027 kann der Abriss beginnen. ,Rhein in Flammen’ findet 2021, schon im zweiten Jahr, nicht statt. Die Pandemie. Ob überhaupt und wie viele Einwohner in NRW durch die Ereignisse von 1986 gesundheitlich geschädigt wurden? Mediziner haben im „Ärzteblatt“ 2016 eine Gesundheits-Bilanz der Tschernobyl-Emissionen in Deutschland aufgeschrieben. „Millionen von Menschen kamen in Kontakt mit radioaktiven Isotopen wie Jod-131 und Cäsium-137 und nahmen sie in der Atemluft, kontaminierter Nahrung, Milch und Trinkwasser in den Körper auf.“ Als mögliche Folgen listeten sie auf: Erbgut-Veränderung, Fehlgeburten, Herzprobleme, Schilddrüsenkrebs. 2013 ergibt eine Auswertung des NRW-Krebsregisters für Hamm, dass die Risikoquote für Schilddrüsenkrebs bei Frauen in der Umgebung des Meilers um 64 % zugenommen habe. Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) sah „keinen kausalen Zusammenhang“.
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