Berlin. Osteuropa wird schwer von Covid-19 heimgesucht. Die Menschen sterben, obwohl Regierungen viel Geld ausgeben – das ist kein Zufall.
Tragödie, großes Sterben, Massaker. Das sind die Begriffe, mit denen Mediziner die Corona-Lage in vielen Ländern Osteuropas derzeit beschreiben. Zum Beispiel in Ungarn.
„Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird sich Europa später nicht an das italienische Bergamo, sondern an eine ungarische Stadt als Beispiel für die Zerstörungswut des Virus erinnern“, zitierte das Nachrichtenportal „hvg.hu“ kürzlich einen Budapester Arzt.
Ein Blick auf die Zahlen bestätigt das. Gemessen an der Bevölkerungsgröße steht Ungarn bei den Covid-19-Toten weltweit an zweiter Stelle. Die Quote beläuft sich auf 2,63 Todesfälle pro Tausend Einwohner. Schlechter ist nur der traurige „Weltmeister“ Tschechien mit 2,67. In Deutschland liegt der Wert bei 0,96.
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Die hohen Zahlen sind kein Zufall
Der Blick auf die Statistik verrät aber noch mehr über die Lage in Europa: Die hohen Todeszahlen in Ungarn und Tschechien können kein Zufall sein. Denn in der Rangliste folgen nach dem Kleinstaat San Marino mit Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Bulgarien und Nordmazedonien weitere Länder im Osten des Kontinents.
Dann erst taucht mit Belgien der erste westeuropäische Staat auf, bevor es mit Slowenien und der Slowakei wieder in den Osten geht. Dagegen sind Italien, Portugal und Großbritannien, die lange mit Schreckensmeldungen die Schlagzeilen bestimmten, glimpflicher davongekommen.
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Polens Katastrophe
Auch in Polen spricht Gesundheitsminister Adam Niedzielski inzwischen von einer Katastrophe. Denn selbst in dem Wirtschaftswunderland des Ostens ist die Pandemiebilanz mittlerweile verheerend. Dabei hatte die Regierung viel Geld in die Hand genommen, mehr als genug Beatmungsgeräte gekauft und im Warschauer Nationalstadion eine zusätzliche Corona-Klinik errichtet.
Der renommierte Virologe Wlodzimierz Gut hatte noch im vergangenen Sommer über die polnische Pandemiepolitik geurteilt: „Ganz klar: Wir waren erfolgreich.“ Doch dann rollte die zweite Welle heran. Im Herbst erreichte die Übersterblichkeit in Polen mit 97,2 Prozent den höchsten Wert in der EU.
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Mit dem Begriff „Übersterblichkeit“ bezeichnen Mediziner höhere Todeszahlen im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre. In Polen starben demnach im vergangenen November etwa doppelt so viele Menschen wie sonst üblich im Spätherbst. Das vielleicht Bitterste daran: Die dramatisch hohen Todeszahlen waren keineswegs nur auf Covid-19 zurückzuführen.
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Viele Patienten, die an anderen Krankheiten litten oder operiert werden sollten, gingen aus Angst vor Ansteckung oder schlechter Behandlung nicht zum Arzt oder in die Klinik. Das wiederum hatte mit dem fehlenden Zutrauen in das Gesundheitssystem zu tun. Eine globale Erhebung in 26 Staaten auf fünf Kontinenten ergab kürzlich, dass das Vertrauen in die Kompetenz der Ärzte in Polen weltweit am geringsten ist.
Tatsächlich hat Deutschlands östlicher Nachbar die schlechteste medizinische Versorgungsdichte in der EU. Auf tausend Einwohner kommen dort 2,4 Ärzte. Im EU-Schnitt sind es 3,6 und in Deutschland 4,3. Bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf lag Polen vor Pandemiebeginn auf dem fünftletzten Platz in der EU. Schlechter waren mit Kroatien, Lettland, Bulgarien und Rumänien nur einige andere osteuropäische Staaten.
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Der "Braindrain" macht die Lage schlimmer
Die logische Konsequenz ist seit vielen Jahren die gleiche: Schlecht bezahlte Ärzte und Pflegekräfte wandern ab. Fachleute sprechen von einem „Braindrain“. Gemeint ist der Verlust der besten Köpfe eines Landes durch Migration.
Wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU hat der „Braindrain“ in den östlichen Mitgliedstaaten längst erschreckende Ausmaße angenommen. Länder wie Bulgarien oder Lettland verloren seit 1990 rund 20 Prozent ihrer Bevölkerung. In medizinischen Berufen ist der Aderlass oft noch stärker. Der Grund ist simpel: Geld. So verdient ein Internist in Deutschland oder Skandinavien das Vier- bis Fünffache dessen, was er in seiner osteuropäischen Heimat bekäme.
In der Slowakei wird deshalb bereits über höhere Auswanderungshürden für Medizinstudenten debattiert. Da ein echtes Verbot europarechtlich nicht möglich ist, sollen sich Studierende bei ihrer Einschreibung an einer slowakischen Universität dazu verpflichten, nach ihrem Abschluss im Land zu bleiben. Wer trotzdem geht, soll mehrere Zehntausend Euro Ausbildungskosten an den Staat zurückzahlen.
Mobilität kann in der Krise zur Gefahr werden
„In einer Welt offener Grenzen stehen die osteuropäischen Länder heute vor derselben Bedrohung wie die DDR vor dem Mauerbau“, sagt der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev. Er hält die Binnenmigration für das größte Problem in Europa. Auch für den Westen. Das zeigt sich in der Pandemie.
So pendeln täglich Tausende Pflegekräfte und Ärzte, die in Polen oder Tschechien leben und dort preiswerter wohnen, zu ihren Arbeitsstellen in Deutschland.
Die zusätzliche Mobilität wiederum hat den Eintrag des Virus nach Sachsen und Brandenburg erhöht. Denn in Tschechien und Polen lag die Sieben-Tage-Inzidenz im ersten Quartal teilweise bei gut 800 beziehungsweise 535. Aktuell sind die Werte auf 200 und 287 gesunken. Die Impfkampagne kommt in beiden Ländern gut voran. Für die Verstorbenen ist es allerdings zu spät.