Berlin. Die Jugendämter schlagen Alarm. Sie befürchten mehr Schulabbrüche und sorgen sich vor Gewalt. Viele Kinder sind vom Radar verschwunden.

Der Schulunterricht? Findet virtuell statt. Das Treffen mit anderen Kindern auf dem Spielplatz, dem Bolzplatz oder im Sportverein? Im Lockdown gestrichen. Die Corona-Pandemie zehrt an den Nerven aller – doch Kinder und Jugendliche sind in einem besonderen Ausmaße von der Pandemie betroffen.

Schülerinnen und Schüler, die sich nicht in Abschlussklassen befinden, haben teils wochenlang keine Schule mehr von innen gesehen. Und hinter manch verschlossener Wohnungstür geht es im Lockdown alles andere als friedlich zu. Die Zahl der Anrufe bei Hilfe-Hotlines steigt.

Nun schlagen die deutschen Jugendämter Alarm. Sie warnen vor massiven Langzeitfolgen von Kindern und jungen Erwachsen, sorgen sich um Schulabbrecher und appellieren an Bund, Länder und Kommunen, ihnen mehr Geld zu geben, um die schlimmsten Folgen abmildern zu können. „Die Corona-Pandemie wirft die Kinder- und Jugendarbeit um mindestens fünf Jahre zurück“, sagte Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, unserer Redaktion.

Corona-Pandemie: Jugendämter rechnen mit doppelt so vielen Schulabbrechern

„Mit Blick auf die beiden Abschlussjahrgänge droht sich die Zahl der Schulabbrecher zu verdoppeln“, befürchtet Bahr, der neben seinem Posten als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft das Landesjugendamt Rheinland leitet.

Konkret bedeutet das: Anstatt der erwarteten 104.000 Schulabgänger ohne Bildungsabschluss pro Jahr rechnet der Jugendamtschef nun mit mindestens 210.000 Schulabbrechern – sowohl im Jahr 2020 als auch im laufenden Jahr. Auch viele Kinder aus der Mittelschicht würden so einen „frühen Karriereknick“ erleben.

Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, befürchtet eine Verdopplung der Schulabbrecher-Zahlen.
Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, befürchtet eine Verdopplung der Schulabbrecher-Zahlen. © FUNKE Foto Services | Thilo Schmülgen

Viele Kinder und Jugendliche sind vom Radar verschwunden

„Viele Schülerinnen und Schüler waren schlicht nicht mehr erreichbar“, berichtet Birgit Zeller, Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz. Zwar blieben die Jugendämter während der gesamten Dauer der Pandemie geöffnet. Viele stellten ihre Angebote aber auf digitale Maßnahmen um. „Viele Kinder und Jugendliche, insbesondere aus armutsgefährdeten Familien, sind aber digital auch gar nicht erreichbar“, gibt Lorenz Bahr zu bedenken.

Das hat Folgen. Viele Jugendämter berichten, dass sie den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie verloren haben. Das geht aus einer Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter zusammen mit dem Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ISM) hervor, die unserer Redaktion vorliegt und an der 298 der 559 Jugendämter in Deutschland teilgenommen haben.

Kinder und Jugendliche verlieren den Anschluss

Seit Beginn der Krise haben die Jugendämter der Befragung zufolge vor allem Schwierigkeiten, den Kontakt mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren, Familien, die sich in prekären Lebenslagen befinden sowie Kindern, deren Eltern psychisch erkrankt sind oder unter Suchtproblemen leiden, zu halten. „Allein diese Gruppen betreffen rund vier Millionen Kinder und Jugendliche und zieht sich durch alle sozialen Schichten“, sagt Heinz Müller, Leiter des ISM.

„80 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus armutsgefährdeten Haushalten drohen den Anschluss zu verlieren – schulisch, aber auch im Umgang mit sozialen Kontakten oder ehrenamtlichem Engagement in Vereinen“, warnt Müller.

Heinz Müller, Leiter des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz, führte die Befragung der Jugendämter durch.
Heinz Müller, Leiter des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz, führte die Befragung der Jugendämter durch. © Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz

Digitalisierungsdefizit in den Jugendämtern

Wie bei so vielen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung sei auch in den Jugendämtern der Grad der Digitalisierung unzureichend, bemängelt Müller: „Wenn im größten deutschen Jugendamt nur zwei Laptops zur Verfügung stehen, dann sagt das schon einiges aus.“ Zwar müsse man nicht mehr mit Faxgeräten arbeiten, in puncto Verwaltungssoftware sei man aber „in einer ganz frühen Phase der Digitalisierung stecken geblieben.“

Das erschwert die Arbeit in den Jugendämter, die für rund 26 Millionen Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Eltern in Form von Beratungen, Begleitungen und Hilfsangeboten zuständig sind, zusätzlich. Ein mangelhafter Grad an Digitalisierung, weggefallene Angebote und Bildungsrückstände, die sich nur schwer wieder aufholen lassen – die Jugendämter stehen vor einer Mammutaufgabe.

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Zahl der Kinderschutzmeldungen bisher konstant

Jede Woche Lockdown und Pandemie verschärft die Situation zusätzlich. Immerhin sei bisher die Anzahl der Kinderschutzmeldungen konstant geblieben, berichtet Lorenz Bahr. Zwar seien weniger Meldungen aus den Kitas und Schulen eingegangen, dafür habe es mehr Meldungen aus der Nachbarschaft oder von der Polizei gegeben. Wo es eine Meldung gab, mussten die Jugendämter fast immer tätig werden.

Dass die Meldungen zur Kindeswohlgefährdungen bundesweit nicht gestiegen sind, könnte nur eine Momentaufnahme sein, fürchtet Bahr, der mit steigenden Zahlen rechnet: „Denn die Frauenhäuser sind derzeit voll, auch Hilfetelefone werden stark nachgefragt. Diese Entwicklung wird früher oder später auch in der Kinder- und Jugendarbeit ankommen.“

Eine Gruppe ohne Stimme

Besonders bitter ist aus Bahrs Sicht, dass die Kinder und Jugendliche in der Pandemie keine eigene Stimme haben, nicht gehört werden. „Es wird über sie hinwegentschieden“, klagt der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter.

Egal ob Schulschließungen, Distanzunterricht oder Selbsttests an Schulen – die Meinung der Kinder bleibe bisher außen vor. „Es ist dringend notwendig, dass sie eine Stimme bekommen, dass Jugendparlamente und Jugendräte in Entscheidungen miteinbezogen werden“, sagt Bahr daher.

Mehrkosten von bis zu 5,6 Milliarden Euro pro Jahr

Doch eine größere Sichtbarkeit allein wird nicht reichen, das ist auch dem Jugendamtsleiter bewusst. Im Gegenteil. Die Langzeitfolgen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche werden Geld kosten, viel Geld. Auf 5,6 Milliarden Euro schätzen die Jugendämter den Mehrbedarf – pro Jahr. Und das sei noch „konservativ geschätzt“, gibt Bahr zu bedenken.

Kommt es zu mehr Gewalt gegen Kinder, müssen die Hilfsangebote hochgefahren werden. Gleichzeitig brauche es aber auch mehr Präventionsarbeit. Man müsse den Jugendlichen Aussichten auf die Zukunft bieten, mahnt Bahr. Er schlägt beispielsweise vor, dass das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) oder das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ) besser als bisher vergütet wird.

In puncto Nachhilfe hat der Bund bereits den Schritt nach vorne gewagt: Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) kündigte im Gespräch mit unserer Redaktion an, eine Milliarde Euro in die Nachhilfe investieren zu wollen.

Jugendämter schlagen Finanzierung über einen Fonds vor

Denn bisher wurden fast ausschließlich Abiturientinnen oder Abiturienten von den Angeboten Gebrauch machen. „Wir müssen aber gerade auch Jugendliche mit anderen Bildungsabschlüssen oder ohne Schulabschluss erreichen, um ihnen eine Perspektive aufzeigen zu können“, appelliert Bahr. „Es darf nicht passieren, dass Jugendliche durch das Raster fallen und sich direkt in Hartz IV wiederfinden.“

Die Jugendämter schlagen vor, die Finanzierung über einen Fonds zu regeln. „Wichtig ist, dass Bund, Länder und Kommunen die Herausforderungen gemeinsam wahrnehmen und die Verantwortung am Ende nur von den Kommunen getragen wird“, sagte Bahr.

Landesjugendamtsleiterin Birgit Zeller bezeichnet den Fonds als „essenziell“, um die schlimmsten Folgen abzufedern und schnell wieder auf das Vorkrisenniveau zu kommen. Es brauche nun leicht zugängliche Angebote für Kinder und Jugendliche.

„Früher waren das die Jugendhäuser, heute brauchen wir neue, kreative Ansätze. Wenn die Politik eine Wertschätzung gegenüber den Jugendämtern signalisiert, dann wird es gelingen. Es mangelt nicht an Kreativität. Es mangelt an Mitteln, sowohl finanziell als auch technisch, um die massiven Folgen der Pandemie in der Kinder- und Jugendarbeit abzufedern“, sagt Zeller.

Birgit Zeller, Sprecherin Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz, setzt auf kreative Ansätze.
Birgit Zeller, Sprecherin Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz, setzt auf kreative Ansätze. © Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter | Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter