Berlin. Die Pandemie belastet das Hilfesystem für Betroffene zunehmend. Die FDP fordert, dass die Infrastruktur krisenfest gemacht wird.

Corona ist das bestimmende Thema unserer Arbeit in diesem Jahr“, sagt Petra Söchting, Leiterin des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ bei der Vorstellung der neuen Kriminalstatistik zur Partnerschaftsgewalt in Berlin. Im Vorjahr 2019 gab es der Erhebung zufolge 141.792 Opfer häuslicher Gewalt. Zumindest wurden so viele Fälle angezeigt.

Das Hellfeld ist bei Partnerschaftsdelikten klein, das Dunkelfeld umso größer: Der Leiter des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, geht davon aus, dass rund 80 Prozent der Fälle nicht in der Statistik auftauchen, da Opfer nicht zur Polizei gehen, sich keine Hilfe holen. Zu groß sei oft die Angst, die Scham oder der Druck, den Partner nicht anzuzeigen, bei ihm zu bleiben.

Häusliche Gewalt: Fallzahl steigt seit Jahren

Seit Jahren steigt die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt, eine Trendumkehr sei nicht erkennbar, so Münch. Die große Mehrheit der Opfer ist weiblich, sie machen mehr als 80 Prozent der Fälle aus. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) findet die Zahlen „schockierend“: „An fast jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. Und alle 45 Minuten wird – statistisch gesehen – eine Frau Opfer von vollendeter und versuchter gefährlicher Körperverletzung.“

Die Corona-Pandemie mit den damit einhergehenden Lockdowns wird die Situation für viele Betroffene nicht verbessert haben. Zwar ließe eine Abfrage der Bundesländer noch keinen allgemeinen Anstieg häuslicher Gewalt erkennen, berichtet BKA-Chef Münch. „Doch das Risiko von Partnerschaftsgewalt ist durch die Corona-Zeit weiter gestiegen“, meint er. Erste Zahlen aus Berlin bestätigen seine Vermutung, dort wurde ein Anstieg von häuslicher Gewalt um 11 Prozent verzeichnet, die Notrufe bei der Polizei nahmen zuletzt sogar um 40 Prozent zu. Ein neues Frauenhaus wurde kurzfristig eröffnet.

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BKA-Chef: Mangelnde soziale Kontrolle in Corona-Krise verschärft Situation

Die Isolation zu Hause, der andauernde Mangel an sozialen Kontakten und das Wegfallen von Frühwarnsystemen durch Homeoffice, Schulschließungen und Krankschreibungen per Telefon – all das kann laut Experten dazu führen, dass Opfer weniger auffallen und seltener der Gewalt entkommen können. „Die soziale Kontrolle hat abgenommen, deshalb gehen wir davon aus, dass wir noch weniger in den Daten sehen werden“, so Münch.

Dass die Fallzahlen aber nicht ab, sondern eher deutlich zunehmen, zeigt sich schon jetzt bei den Hilfsangeboten im Frauenunterstützungssystem. Die Beratungskontakte des Hilfetelefons zum Thema häusliche Gewalt seien in der Corona-Pandemie deutlich gestiegen, berichtet Petra Söchting. Während im vergangenen Jahr bei der Hotline etwa 850 Beratungen pro Woche stattgefunden haben, sind es seit März dieses Jahres rund 1000 Beratungen wöchentlich.

Hilfetelefon: Alle 20 Minuten ein Anruf wegen häuslicher Gewalt

„Mittlerweile erhalten wird am Tag 67 Anfragen zum Thema Partnerschaftsgewalt, das bedeutet alle 20 Minuten ein Anruf“, so die Leiterin des Frauenhilfetelefons. Die erhöhte Anzahl von Anrufen könnte aber auch teilweise damit zusammenhängen, dass die Telefonnummer seit der Pandemiekrise bundesweit deutlich bekannter sei.

Gesteigert haben sich auch die Anrufe aus dem privaten Umfeld von Opfern. Bis Ende Oktober meldeten sich rund 7500 Freunde, Angehörige und Bekannte, um sich beraten zu lassen. Das sind jetzt schon mehr als im gesamten Jahr 2019. „Das ist auch ein gutes Zeichen, denn es zeigt, dass vielleicht mehr Menschen hingucken“, sagt Söchting.

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Frauenhäuser in Ballungszentren und Städten sind voll ausgelastet

Heike Herold, Geschäftsführerin der Frauenhauskoordinierung e. V. (FHK) sagte gegenüber unserer Redaktion, dass es bei den Schutzhäusern starke regionale Unterschiede gebe: „Besonders in den Ballungszentren und Städten gibt es Frauenhäuser, die vollkommen ausgelastet sind.“ Dass die Nachfrage nach geschützter Unterbringung in anderen Regionen dafür zurückgehe, müsse nichts Gutes heißen: „Da machen wir uns Sorgen, ob sich Frauen derzeit keine Hilfe holen können oder Angst haben, in der Pandemie in die beengten Verhältnisse eines Frauenhauses zu ziehen.“

Rund drei Millionen Euro stellt das Familienministerium aktuell zur Verfügung, um Frauenhäuser und Fachberatungsstellen bundesweit in der Corona-Krise technisch besser auszustatten. Im Rahmen des Projekts „Hilfesystem 2.0“ können Einrichtungen für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder seit Mitte Oktober Unterstützung für pandemiebedingte Sonderbedarfe im digitalen Bereich beantragen. Allein innerhalb der ersten Woche gingen mehr als 100 Anträge ein.

„Gewalt hat in der Corona-Pandemie nicht abgenommen“

Herold sieht das Hilfesystem mittlerweile besser für die Pandemie gerüstet als noch im Frühjahr. „Es bleibt aber das Problem, dass die Personaldecke viel zu dünn ist, um die eigentliche Arbeit und die zusätzliche Belastung durch die Corona-Pandemie zu tragen“, so Herold. Länder und Kommunen seien in der Pflicht, hier Abhilfe zu schaffen.

Ob die Inanspruchnahme von Frauenhäusern in der Corona-Zeit signifikant gewachsen sei, vermag Herold noch nicht zu sagen. „Aber es ist auf keinen Fall damit zu rechnen, dass die Gewalt in der Corona-Pandemie abgenommen hat“, sagt die FHK-Geschäftsführerin. Außerdem stiegen die Fallzahlen ja auch ohne Corona-Krise weiter, wie die BKA-Statistik zeige.

Anstieg häuslicher Gewalt: FDP fordert neues Frauenhaus-Register

Um einen besseren Überblick über die Inanspruchnahme der Frauenhäuser zu haben, fordert die Bundestagsfraktion der FDP von Bund und Ländern die Einführung eines länderübergreifenden Online-Registers zur Registrierung und Abfrage von freien Plätzen in Schutzeinrichtungen. Das geht aus einem Antrag vor, der unserer Redaktion vorliegt. Dieses soll in Anlehnung an das DIVI für Intensivbetten unter Einhaltung des Datenschutzes einen besseren Überblick über die Auslastung der Kapazitäten geben und auch bundesweite Kooperationen erleichtern.

„So müssten von häuslicher Gewalt betroffene Menschen nicht abgewiesen werden, wenn in einer Einrichtung oder einer Stadt alle Plätze belegt sind“, sagt die frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Nicole Bauer. Auch Heike Herold hält eine solche Regelung für sinnvoll: „Grundsätzlich befürworten wir, dass es eine Webseite gibt, auf der die Plätze ausgewiesen sind. Insbesondere für das bundesweite Hilfetelefon kann das eine wichtige Funktion haben.“ Nach Empfehlungen der Istanbul-Konvention fehlen deutschlandweit derzeit circa 15.000 Frauenhaus-Plätze.

Mit App und Befragung durch Frauenarzt gegen Partnerschaftsgewalt

Damit Opfern häuslicher Gewalt auch in der Zeit der Pandemie schnell und niedrigschwellig geholfen werden kann, schlägt die FDP außerdem vor, die digitalen Beratungsangebote auszubauen. Über eine von offizieller Stelle betreuten App könnten Betroffene in Zukunft einfach beraten werden, Missbrauch schnell melden und ihn darüber hinaus dokumentieren, ohne dabei die Aufmerksamkeit des Täters durch ein Telefongespräch auf sich zu ziehen. Wichtig sei dabei, dass die App getarnt werde, beispielsweise als „Wetter-App“, um die Hilfesuchenden zu schützen.

Außerdem müsse sich im Bereich der Prävention mehr tun, als bisher durch Aufklärungskampagnen geschehen: „„Wir müssen endlich früher ansetzen, um Schlimmeres zu verhindern. Deshalb schlagen wir vor, eine vertrauliche und schriftliche Routineabfrage zu häuslicher Gewalt beim Frauenarztbesuch einzuführen“, so die FDP-Abgeordnete Bauer. Es könnte ein Ansatz sein, das Dunkelfeld etwas aufzuhellen.

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