Berlin. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärt im Interview, warum es wichtig werden kann, welchen Impfstoff man bekommt.

An diesem Freitag debattiert der Bundestag über das neue Infektionsschutzgesetz, das bundeseinheitliche Ausgangsbeschränkungen vorsieht, wenn der Inzidenzwert über 100 steigt.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sagt im Interview mit unserer Redaktion, welche Änderungen noch möglich sind – und auf welche Freiheiten sich Menschen mit vollständigem Impfschutz freuen dürfen. Dabei könnten Biontech-Geimpfte anders behandelt werden als Menschen, die das Astrazeneca-Vakzin bekommen haben.

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Im Kampf gegen Corona entmachtet der Bund die Länder. Ein notwendiges Opfer, Frau Lambrecht?

Christine Lambrecht: Das ist keine Entmachtung. Wir machen deutlich, dass alle gemeinsam für einige wenige Wochen noch einmal eine Kraftanstrengung mit klaren Regeln leisten müssen. Wir erleben, dass die vereinbarten Regeln in den Bundesländern sehr unterschiedlich vollzogen werden. Und dieses uneinheitliche Vorgehen – selbst in benachbarten Regionen – trägt zu den Ermüdungserscheinungen bei Bürgerinnen und Bürgern bei.

Der Deutsche Landkreistag nennt das neue Infektionsschutzgesetz ein „Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen“ …

Lambrecht: Ich kann diese Kritik nicht nachvollziehen. Es geht nicht um Misstrauen, sondern um eine klare, einheitliche Regelung. Jeder soll wissen, welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn bestimmte Werte erreicht sind. Unser Gesundheitssystem ist sehr belastet. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Menschenleben zu retten.

Das angestrebte Eilverfahren ist nicht zustande gekommen – und Gesundheitsexperten fürchten, dass die einheitliche Notbremse in Bundestag und Bundesrat noch verwässert wird.

Lambrecht: Ich habe nicht den Eindruck, dass der Gesetzentwurf verwässert werden soll. Es sind ja Regeln, die von der Ministerpräsidentenkonferenz bereits vorgesehen waren. Im Gesetzgebungsverfahren werden jetzt Fragen der Verhältnismäßigkeit noch einmal geprüft – etwa bei den Ausgangsbeschränkungen. Das ist auch gut und richtig so.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will sich für die Rechte der gegen Corona geimpften Menschen einsetzen.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will sich für die Rechte der gegen Corona geimpften Menschen einsetzen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Gerichte haben Ausgangssperren aufgehoben. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Lambrecht: Es geht nicht um eine bundes- oder landesweite Ausgangssperre, wie sie etwa vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim beanstandet wurde. Die Ausgangsbeschränkungen des Infektionsschutzgesetzes greifen nur in den Landkreisen, wo die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Schwellenwert von 100 überschreitet. Es wird also regional unterschieden.

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Halten Sie Nachbesserungen für geboten?

Lambrecht: Ich bin davon überzeugt, dass unser Gesetzentwurf verhältnismäßig ist. Sonst hätte ich als Justizministerin im Kabinett auch nicht zugestimmt. Im parlamentarischen Raum wird über weitere Ausnahmen von den Ausgangsbeschränkungen diskutiert. So wird die Möglichkeit erwogen, auch in der Zeit zwischen 21 und 5 Uhr unterwegs zu sein – etwa zum Spaziergang oder zum Sport.

Aerosolforscher sagen: Ansteckungen mit dem Coronavirus finden fast ausschließlich in Innenräumen statt. Was bringen Ausgangsbeschränkungen überhaupt?

Lambrecht: In vielen Ländern mit hohen Inzidenzwerten – Portugal, Irland oder Frankreich – haben Ausgangsbeschränkungen ganz offensichtlich gewirkt. Es geht doch darum, Kontakte so weit wie möglich zu vermeiden, um die Pandemie zu brechen. Die Lebenswirklichkeit zeigt: Menschen gehen abends aus dem Haus, um andere zu besuchen. Und das ist wieder eine zusätzliche Kontaktaufnahme, die eine Infektionskette in Gang setzen kann.

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Wer sich nicht draußen treffen darf, könnte versucht sein, sich heimlich drinnen zu treffen.

Lambrecht: Wir müssen in einer gemeinsamen Kraftanstrengung den Anstieg der Infektionszahlen brechen – und sollten nicht nach Möglichkeiten suchen, die Regeln zu umgehen. Jedem sollte doch mittlerweile klar sein, dass wir es hier mit einer gefährlichen, potenziell tödlichen Krankheit zu tun haben, die jeden treffen kann. Ich fühle mich auch persönlich verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger vor einer Infektion und unser Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen.

Wie lange wollen Sie Geimpfte genauso behandeln wie Ungeimpfte?

Christine Lambrecht: Ich werde mit Nachdruck auf eine Regelung dringen: Menschen, die geimpft sind und von denen nachweisbar keine Gefahr für andere ausgeht, müssen zurückkommen zur Normalität. Es gibt keine Rechtfertigung mehr für die Einschränkung ihrer Grundrechte. Wir müssen deshalb die Grundrechts-Einschränkungen für Geimpfte aufheben.

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Alle Einschränkungen?

Lambrecht: Ich denke, es ist zum Beispiel zumutbar, auch als Geimpfter noch eine Maske zu tragen - auch im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit solcher Gebote. Aber intensivere Einschränkungen von Grundrechten - etwa das Verbot von Besuchen - kann es für Geimpfte, von denen keine Gefahr ausgeht, nicht mehr geben. Dazu hat der Staat nicht das Recht.

Soll das für alle Impfstoffe gelten?

Lambrecht: Die Einschränkung von Grundrechten kann bei denjenigen Impfstoffen aufgehoben werden, bei denen nachgewiesen ist, dass keine Ansteckungsgefahr mehr besteht, die diese Einschränkung rechtfertigen würde.

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Es könnte also sein, dass Biontech-Geimpfte ihre Freiheiten zurückbekommen und Astrazeneca-Geimpfte nicht?

Lambrecht: Wissenschaftler müssen uns sagen, welche Impfung welche Wirkung hat. Wenn das Ansteckungsrisiko nicht ausreichend reduziert wird, geht von dem Geimpften ja noch eine Gefahr aus. Dann können die Einschränkungen auch nicht aufgehoben werden.

Wie schnell wollen Sie das regeln?

Lambrecht: Manche Länder - zum Beispiel Berlin - gehen ja schon voran. Und ich möchte nicht in die Situation kommen, dass wir uns Woche für Woche von Gerichten dazu verpflichten lassen müssen, den Bürgern mehr Freiheiten einzuräumen. Das neue Infektionsschutzgesetz gibt dem Bund die Möglichkeit, hierzu Verordnungen zu erlassen. Wir müssen Regeln für Geimpfte schnell auf den Weg bringen.

Was sagen Sie jenen, die vor einer Impfpflicht durch die Hintertür warnen?

Lambrecht: Niemand muss sich gegen Corona impfen lassen in unserem Land. Dabei wird es auch bleiben. Aber der Staat darf nun einmal nicht die Rechte derjenigen einschränken, von denen keine Gefahr ausgeht - nur weil andere noch nicht geimpft sind oder sich gar nicht impfen lassen wollen.

Die starre Impf-Reihenfolge bremst den Impffortschritt. Wie lange wollen Sie daran festhalten?

Lambrecht: Es ist immer noch richtig und sinnvoll, Menschen mit besonderem Risiko schwerer Krankheitsverläufe vorrangig zu impfen. In wenigen Wochen werden wir so viel Impfstoff haben, dass wir in einem sehr schnellen Takt alle Bevölkerungsgruppen erreichen werden.

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Ist es verhältnismäßig, die allermeisten Geschäfte zu schließen, wenn die Notbremse greift?

Lambrecht: Die Abholung von Waren wird ja weiter möglich sein, daher würde ich nicht von Schließung reden. Aber wenn Menschen zusammenkommen, können Infektionsketten entstehen. Das gilt für die Fahrt zum Einkaufen wie für die Geschäfte selbst. Insofern ist diese Einschränkung verhältnismäßig.

Halten Sie es für klug, Modellprojekte mit Ladenöffnungen für Menschen mit negativem Corona-Test aufzugeben?

Lambrecht: Es ist zwingend, diese Öffnungen zu stoppen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen über den Schwellenwert von 100 steigt. Das zeigt ja, dass die Tests ihren Zweck nicht erfüllt haben. Gerade erleben wir das im Saarland.

Die Schulen müssen erst bei einer Inzidenz von 200 schließen. Welcher Logik folgt das?

Lambrecht: Das Recht auf Bildung hat einen besonderen Stellenwert. Und die Länder haben die Möglichkeit, auch schon früher einzugreifen und zum Beispiel Wechselunterricht anzubieten.

Ein milderes Mittel wäre die digitale Nachverfolgung von Kontakten. Liegt es am Datenschutz, dass sich Deutschland damit so schwer tut?

Lambrecht: Ich habe nicht den Eindruck, dass der Datenschutz bei der Pandemiebekämpfung bremsen würde.

Die Warn-App ist ein Trauerspiel.

Lambrecht: Ich kann nicht erkennen, dass uns der Datenschutz daran hindert, Infektionsketten nachzuvollziehen. Durch die App werden Kontaktpersonen gewarnt, sie wird auch laufend weiterentwickelt. Aber natürlich sollte niemand erwarten, dass sie alle Probleme löst.

Die App übermittelt Infektionen nicht mal an die Gesundheitsämter, geschweige denn an Kontaktpersonen.

Lambrecht: Das war auch nie vorgesehen, diese Meldung erfolgt gemäß Infektionsschutzgesetz über die Teststellen und Ärzte. Jeder ist aufgerufen, bei einem positiven Testergebnis seine eigenen Kontaktpersonen zu informieren, unabhängig von der App. Wenn wir dies über die App automatisieren würden, verlöre die App ihre Akzeptanz und die Leute würden sie einfach ausschalten. Damit wäre auch keinem geholfen.