Berlin. In sogenannten Modellregionen werden Corona-Maßnahmen gelockert – abgesichert durch viele Tests. Doch an ihnen regt sich viel Kritik.
Wer sich dieser Tage Bilder aus Tübingen anguckt, könnte meinen, sie stammen aus einer Zeit vor der Pandemie: Menschen sitzen in Cafés, tummeln sich in der Innenstadt. Vor dem Osterwochenende genossen viele den ersten Aperol Spritz in der baden-württembergischen Frühlingssonne.
Einfach mal wieder ohne Termin in einem Geschäft einkaufen, im Außenbereich eines Restaurants schlemmen – danach sehnen sich derzeit viele Deutsche. Während die dritte Pandemie-Welle an Fahrt aufnimmt, scheint die Erfüllung dieses Wunsches aber weiter weg denn je. Außer in den sogenannten Modellregionen und -städten in einigen Bundesländern.
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Modellprojekte in Tübingen und Rostock starteten bei niedrigen Inzidenzen
In Tübingen läuft ein solches Modellprojekt seit Mitte März. An neun Teststationen können die Menschen kostenlose Tests machen, das Ergebnis wird bescheinigt. Damit kann man in Läden, zum Friseur oder auch in Theater und Museen.
Auch die Stadt Rostock experimentiert seit mehreren Wochen mit Öffnungsschritten: Testweise wurden erste öffentlich Veranstaltungen erlaubt, beispielsweise im Volkstheater Rostock. Zugangsvoraussetzung für die etwas über 100 Zuschauer aus Regionen mit einer Inzidenz unter 50 war ein negativer Schnelltest, außerdem mussten Abstände eingehalten und Masken getragen werden. Wegen einer bisher stabilen Inzidenz unter 50 nannten einige Medien die Stadt gar schon ein "Corona-Wunder". Der Sozialsenator der Stadt spielt nun sogar mit der Idee, für die Klassen 7 bis 11 wieder normalen Schulunterricht zu ermöglichen.
Modellversuche: Corona-Maßnahmen lockern – trotz steigender Fallzahlen
Doch nicht nur einzelne Städte drängen auf Lockerungen: Im Saarland dürfen seit Dienstag eine ganze Reihe von Einrichtungen und Häuser wieder öffnen. Neben der Außengastronomie sind das Kinos, Theater, Konzerthäuser, Fitnessstudios und Tennishallen. Voraussetzung für Gäste und Nutzer ist meist ein negativer Schnelltest, der nicht älter als 24 Stunden sein darf. Zudem können sich im Freien bis zu zehn Menschen treffen, auch am Biertisch, wenn sie negativ getestet worden sind. Auch Kontaktsport wie Fußball ist wieder erlaubt – mit Testzettel. Ebenfalls in Niedersachsen und Hessen sollen einzelne Regionen Lockerungen erproben.
Die Kritik an diesen Modellprojekten wächst. Vor allem, da die Projekte oft nicht wissenschaftlich begutachtet werden und teilweise planlos Öffnungen vollzogen werden. In Weimar öffneten in der letzten Woche beispielsweise für vier Tage die Geschäfte für Negativ-Getestete. Eine Überprüfung durch Fachleute gab es nicht.
Scharfe Kritik am Tübinger Modell: "Testen statt Lockdown" ist Wunschdenken
Genau darauf pochen aber Corona-Experten wie der Virologe Christian Drosten. Modellprojekte wie in Tübingen sollten eine gute wissenschaftliche Begleitung haben, erklärte der Charité-Forscher in seinem Podcast. Keines der Projekte habe bislang bewiesen, dass es funktioniere, betonte Drosten. "Man sollte sich eine ganze Zahl von solchen Erfolgskriterien hinlegen, bevor man diesen Modellversuch macht, um dann irgendwann in der Nachbewertung zu sagen: Das war erfolgreich." Wichtig seien auch Abbruchkriterien und eine Vergleichsstadt ohne Modellprojekt. Lesen Sie auch: Wo Drosten, Streeck und Co. richtig lagen – und wo nicht
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach übte noch heftigere Kritik und forderte einen Stopp der Modellversuche. "Sie geben das falsche Signal", schrieb Lauterbach am Dienstag auf Twitter. Das Tübinger Projekt zeige, dass unsystematisches Testen mit Öffnungsstrategien die schwere dritte Corona-Welle nicht aufhalten werde. "Testen statt Lockdown" sei Wunschdenken.
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Corona: Sieben-Tage-Inzidenzen steigen in Modellstädten deutlich
An einzelnen Orten Öffnungskonzepte zu erproben, um daraus für den weiteren Verlauf der Pandemie zu lernen, klingt erst einmal sinnvoll. Problematisch wird es, wenn die Modellstädte und -regionen an den Lockerungen festhalten, obwohl die Infektionslage zunehmend außer Kontrolle gerät.
So steht das Modellprojekt in Tübingen, das eigentlich bis zum 18. April laufen sollte, auf der Kippe. In der Stadt Tübingen steigt seit Beginn des Versuchs die Sieben-Tage-Inzidenz deutlich an. Sie knackte am Donnerstag, 1. April, mit 110,4 die 100er-Marke, auch nach den Ostertagen, durch die insgesamt ein Meldeverzug entstanden ist, liegt die Inzidenz des Landkreises weiter über 100.
Bürgermeister Boris Palmer (Grüne) schiebt diesen Anstieg auf die Tagestouristen, will aber an den Öffnungen festhalten. Deshalb wurde das Modell jetzt auf Bewohner des Landkreises Tübingen eingeschränkt. Die Lage sei aber weiter unter Kontrolle, so der Grünen-Politiker.
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Modellprojekte: Experimentieren ohne wissenschaftliche Begleitung?
Auch in Rostock steigt die Zahl der Neuinfektionen an: Noch am 21. März hatte in Rostock die Sieben-Tage-Inzidenz bei 22,0 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern gelegen, am Sonntag (5. April) lag sie bei 76,5. Auch im Modell-Bundesland Saarland steigen die Fallzahlen. Am Montag gab das Robert Koch-Institut eine Sieben-Tage-Inzidenz von 91,3 an. Das war eine Steigerung im Vergleich zum Sonntag, als die Inzidenz noch bei 88,2 lag. Eine Steigerung, in die nun hinein gelockert wird.
Ministerpräsident Hans verteidigte das Modell in der "Bild"-Zeitung. "Die wenigen und vorsichtigen Öffnungen im Saarland sind alle an negative Tests geknüpft", sagte er. "Wir machen da keine Lockerungsübungen."
Inwiefern das Projekt im Saarland eben doch nur eine Übung bleibt, hängt auch davon ab, wie hoch der Erkenntnisgewinn sein wird. Die bisherigen Planungen lassen eher die Vermutung zu, dass das Freitesten lediglich dem Zweck dient, ein Kino oder Restaurant besuchen zu können. Nicht aber, um eine wissenschaftlich fundierte Strategie zu schaffen. Bisher gibt es auch beim Tübinger Experiment keine interessanten Erkenntnisse – trotz Begleitung durch das dort angesiedelte Uniklinikum.
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(mit dpa)
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