Berlin. Geimpfte sollten laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bald mehr dürfen – darüber gibt es geteilte Meinungen. Ein Pro und Contra.

Ein Stück Freiheit als Anreiz zur Impfung oder weiter harte Regeln für alle aus Solidarität? Diese Frage beschäftigt derzeit die Politik. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will gegen Covid-19 geimpften Menschen wieder entspannteres Reisen und Einkaufen ermöglichen, während der Rest weiter alle Anti-Corona-Maßnahmen befolgen muss. Richtig oder fatal?

Pro: Mehr Freiheiten – mehr Anreiz für die anderen

Die Antwort ist einfach: Ja, gegen das Coronavirus Geimpfte sollten wieder in den Genuss ihrer und unserer aller Grundrechte kommen. Wie das Recht auf Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit oder die Entfaltung der Persönlichkeit. Denn es gibt keinen Grund dagegen: Sie sind geimpft, stellen keine Gefahr mehr für andere dar. Also dürfen sie auch wieder reisen, einkaufen und auch ins Restaurant gehen. Und warum nicht auch ins Theater oder ins Kino?

Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin.
Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin. © Krauthoefer | Krauthoefer

In Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes steht: Behörden in Deutschland dürfen Notwendiges tun, soweit und solange es dabei hilft, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern. Wenn einige Personen jetzt also schon davon ausgenommen werden können, besteht keine Legitimation mehr, ihre Rechte weiterhin einzuschränken.

Aber es gibt noch einen anderen Grund: Die Rückgabe dieser Rechte hilft auch der arg gebeutelten Wirtschaft auf die Beine – Reisen können gebucht, Kulturevents geplant und besucht, das Sommerkleid beim Einzelhändler anprobiert und gekauft werden. Je schneller wieder eine Nachfrage besteht und diese auch wahrgenommen werden kann, umso eher erhalten wir auch viele Wirtschaftszweige und Unternehmen.

Denn jeder wird die Bilder aus seinem eigenen Stadtteil kennen: Alle paar Meter hat eine Ladenbesitzerin, ein ­Imbiss, ein Atelier oder ein Restaurantbetreiber aufgegeben – für immer. Leere Schaufenster, abgebaute Firmenschilder stehen für eine Expertise und Auswahl, die es in der Zukunft nicht mehr geben wird.

Hintergrund: Arbeitsmarkt: Frauen haben in der Pandemie größere Einbußen

Und wem diese beiden Gründe noch nicht ausreichen: Es ist auch völlig richtig, mit der Impfung etwas Positives zu verbinden! So entsteht ein Anreiz für möglichst viele Menschen, sich gegen das Coronavirus immunisieren zu lassen.

Denn erst wenn 60 bis 85 Prozent der Bevölkerung – die Wissenschaft macht wegen der Corona-Mutationen unterschiedliche Angaben – das Virus hatten oder geimpft sind, erst dann herrscht „Herdenimmunität“ – und wir können endlich alle zum Alltag ohne Einschränkungen zurückkehren.

Contra: Solidarität mit allen, die noch nicht an der Reihe sind

Wer gegen das Coronavirus geimpft ist und damit seinen Teil zum Kampf gegen die Pandemie beiträgt, soll und muss so schnell wie möglich seine Freiheitsrechte wiedererlangen. Je länger die Einschränkungen anhalten, um so unerträglicher werden sie. Die Corona-Krise lähmt die Menschen von Tag zu Tag mehr. So viel zur Klarstellung vorab.

Alexander Klay, Wirtschaftskorrespondent.
Alexander Klay, Wirtschaftskorrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

Aber solange Bund und Länder die verpatzte Impfkampagne nicht richtig in Schwung bringen können, verbietet sich jede Rosinenpickerei. Schon allein aus Anstand: Wie war das denn etwa mit der viel gepriesenen Solidarität in unserer Gesellschaft?

Im vergangenen Jahr war oft die Rede davon, dass sich die weniger gefährdeten Jüngeren zurückhalten zum Schutz der Älteren. Die meisten haben sich dran gehalten. War das jetzt etwa eine Einbahnstraße?

Stand heute hat etwa jeder Zwanzigste auch die zweite Impfung erhalten und gilt damit als gut geschützt. Dagegen können Millionen Impfwillige unter 70 nicht einmal grob erahnen, wann sie endlich an der Reihe sind. Sie können nur zuschauen und abwarten. Daher ist jetzt nicht die Zeit für eine Freiheitsdebatte.

So eine schreiende Ungleichbehandlung würde den Zusammenhalt in der Gesellschaft extrem belasten. Eine Spaltung wäre in einer der wohl kritischsten Phasen der Pandemie, in der es einmal mehr auf das Mitwirken aller ankommt, das falsche Signal.

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Mit Freiheiten für einige wenige tut sich auch die Politik überhaupt keinen Gefallen. Schließlich glauben zwei Drittel nach einer jüngsten Umfrage nicht an das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, bis zum 21. September jedem ein Impfangebot zu machen.

Freiheit für Geimpfte kann es erst dann geben, wenn sich jeder Impfwillige einen verbindlichen Termin zur Immunisierung in den Kalender eintragen kann. Und das ist hoffentlich möglichst bald.

Und trotzdem wären kleine Erleichterungen für die steigende Zahl Geimpfter im Alltag möglich: etwa, dass vollständig Geimpfte ohne Schnelltest einkaufen oder zum Frisör gehen können. Von frei werdenden Testkapazitäten profitieren nämlich auch Ungeimpfte.