Berlin. Es geht um Gerechtigkeit, aber die Debatte um angebliche „Sonderrechte“ für Geimpfte zeigt wenig Respekt vor unseren Grundrechten.

Die Corona-Pandemie ist nicht nur ein Test für unser Gesundheitswesen, sondern wirft auch ein Schlaglicht darauf, wie respektvoll Regierende in Krisenzeiten mit individuellen Freiheitsrechten der Bürger umgehen. Dabei ist die aktuelle Debatte um sogenannte „Sonderrechte“, die ja in Wirklichkeit unsere ganz normalen Rechte sind, besonders erhellend.

Auf welcher juristischen Grundlage sollte bitte Geimpften, die natürlich nicht ansteckend sein dürfen, die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte weiter entzogen werden?

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, hat dazu eine klare Meinung, die auch Laienjuristen nicht überraschen kann: „Sobald gesichert ist, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, gibt es verfassungsrechtlich keine Legitimation mehr, die Betroffenen in ihren Grundrechten weiter zu beschränken“. Lesen Sie auch: Corona: Jens Spahn will keine Sonderrechte für Geimpfte

Tut Deutschland wirklich alles, damit noch mehr Impfstoff schneller produziert werden kann, fragt Jörg Quoos.
Tut Deutschland wirklich alles, damit noch mehr Impfstoff schneller produziert werden kann, fragt Jörg Quoos. © Dirk Bruniecki

Heißt im Klartext: Deutschlands höchste Richter werden sehr wahrscheinlich willkürliche Einschränkungen kassieren, die in Teilen der Regierung gerade erschreckend salopp gefordert werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass man in Karlsruhe der Regierung Nachhilfe in Demokratie erteilt.

Die ganze Debatte in der Politik um eine angebliche Ungerechtigkeit ärgert zu recht viele, denn beim Thema Gerechtigkeit nimmt es gerade der Staat überhaupt nicht genau. Warum hat der Buchladen offen aber nicht der Plattenladen?

Warum waren im ersten Lockdown kleine Läden zu aber größere durften verkaufen? Warum konnten Rentnerpaare nicht auf der Parkbank verschnaufen aber wie die Heringe im vollbesetzten Flugzeug sitzen? Die junge Geschichte der Pandemiebekämpfung ist eine Aneinanderreihung von gefühlten Ungerechtigkeiten, daher ist dieses Argument der fehlenden Gerechtigkeit das schwächste.

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    Und es gibt noch ein starkes Argument für eine normale Behandlung von nichtansteckenden Personen – es ist der erhöhte Anreiz zum Impfen. Nur wenn möglichst viele Deutsche sich das Vakzin verabreichen lassen, wird es zur erlösenden Herdenimmunität und damit zur Rückkehr in den Alltag kommen. Die Impfskepsis der vergangenen Tage ist vor diesem Hintergrund jedoch erschreckend. Auch interessant: Corona-Impfung: So bekommt man einen Termin

    Für Sorgen vor gesundheitlichen Nebenwirkungen kann man ja durchaus Verständnis haben. Beunruhigender als die Skeptiker sind aber „Querdenker“, erkennbar an ihren manipulierten, durchlässigen Masken, die die Impfung grundsätzlich ablehnen. Auf sie würde der Impfdruck steigen, wenn Zugang zu Kino, Fitnessstudio oder Restaurant nur mit dem Stempel im Impfpass möglich wäre.

    Und was ist mit den Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen? Dieser berechtigte Hinweis muss natürlich diskutiert werden. Ein derart überschaubarer Personenkreis darf aber nicht als Argument dafür herhalten, alle Bürger über einen Kamm zu scheren und ihnen die Grundrechte länger zu entziehen als nötig.

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      Es ist politisch sehr spannend zu beobachten, wer sich in dieser heiklen Frage jetzt öffentlich positioniert. Denn das Thema wird von Woche zu Woche größer. Rund um den Bundestagswahltermin wird hoffentlich eine große Mehrheit der Deutschen geimpft sein. Sie werden mit Nachdruck auf ihre Rechte pochen.

      Friedrich Merz, der Kanzler werden will, ist für das schnelle Aufheben der Einschränkungen für Geimpfte. Das Team Armin Laschet/Jens Spahn und auch CSU-Chef Söder – alle drei mit unterschiedlich ausgeprägten Kanzler-Ambitionen – sind dagegen.

      Freiheit und Alltag – ja, oder nein? Bei einem engen Rennen um CDU-Vorsitz und Kanzlerkandidatur kann die Haltung zu dieser Frage spielentscheidend sein.