Berlin. Durcheinander und zu viel Bürokratie in der Corona-Politik: Der Präsident des Deutschen Städtetages attackiert Bund und Länder frontal.

Zurück zum harten Lockdown? An diesem Montag schalten sich die Ministerpräsidenten wieder mit der Kanzlerin zusammen, um eine Reaktion auf die sprunghaft steigenden Corona-Zahlen zu vereinbaren. Der Präsident des Deutschen Städtetages, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), macht im Interview mit unserer Redaktion einen ungewöhnlichen Vorschlag.

Herr Jung, wie ist die Corona-Lage bei Ihnen in Leipzig?

Burkhard Jung: Wir sind bisher eine kleine Insel in Sachsen gewesen - aber auch bei uns steigen jetzt die Werte. 70 Prozent der Infizierten haben die aggressivere britische Variante. Kinder und Jugendliche sind stärker betroffen, und wir haben deutlich schwerere Fälle auch bei Jüngeren. Das macht mir große Sorgen. In den nächsten Wochen werden wir sehen, wie die dritte Welle unsere Kliniken belastet.

Welche Lockerungen haben Sie gewagt?

Jung: Wir sind den sächsischen Weg gegangen. Die Läden sind offen mit Terminbuchungen, ebenso die Museen. Den Zoo habe ich nicht geöffnet, weil er eine touristische Ausstrahlung von 150 Kilometern hat. In den Schulen mussten wir jetzt 35 Klassen wieder nach Hause schicken, und auch elf Kitas in Leipzig haben eine Corona-Problematik.

Gibt es genügend Tests, um die Lockerungen abzusichern?

Jung: Ein offenes Wort: Ich war richtig sauer über die Ankündigungspolitik. Am schlimmsten ist die Situation in Schulen und Kitas. Sachsen hat die Öffnung beschlossen, obwohl überhaupt keine Teststrategie erkennbar war. Ich habe wirklich die gesamte Entwicklung immer mitgetragen. Aber wenn ich mir dieses Durcheinander anschaue, werde ich wütend.

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Auf wen genau?

Jung: Es kann doch nicht sein, dass eine Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin irgendwelche Festlegungen trifft, ohne vorher nach der Infrastruktur zu fragen. Es ist noch keine Teststrategie, wenn man „Testen, Testen, Testen“ sagt. Was da passiert, ist inakzeptabel. Und wenn die Corona-Notbremse greifen müsste, hält sich kaum jemand daran.

Ziehen Sie denn die Notbremse, wenn die Inzidenz über 100 steigt – und kehren wie vereinbart zum harten Lockdown zurück?

Jung: Ganz klar! Alles andere würde dem Ernst der Situation nicht gerecht. Wenn der Wert über 100 springt, wird die Notbremse gezogen – solange wir nicht sicher sein können, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Worauf wollen Sie hinaus?

Jung: Ich bin sehr dafür, nicht nur auf die Inzidenz zu schauen. Das passt durch das Impfen und Testen nicht mehr. Wir sollten in Deutschland einen neuen Corona-Indikator einführen, der auch die Impfquote, die Belastung der Intensivstationen und die Fallsterblichkeit berücksichtigt. Diese Werte müssen klug miteinander verbunden werden - und zur Orientierungsmarke für Corona-Maßnahmen werden. Das Robert Koch-Institut kann so etwas mit anderen Experten sicher rasch entwickeln. Die Ministerpräsidenten sollten bei ihrer Schaltkonferenz mit der Kanzlerin an diesem Montag die Weichen dafür stellen.

Burkhard Jung (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Präsident des Städtetages greift Bund und Länder wegen ihrer Corona-Politik frontal an.
Burkhard Jung (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Präsident des Städtetages greift Bund und Länder wegen ihrer Corona-Politik frontal an. © dpa | Caroline Seidel

Was erwarten Sie noch von der Runde?

Jung: Erstens wünsche ich mir, dass Bund und Länder ihre Entscheidungen nicht nach vermeintlichen Stimmungen in der Bevölkerung treffen. Die Politik sollte sich stützen auf die Wissenschaft, zu der nicht nur die Medizin gehört. Soziologische, psychologische und pädagogische Sichtweisen brauchen mehr Raum. Zweitens sollten Bund und Länder nur beschließen, was man auch konsequent umsetzen kann. Und drittens sollten Kanzlerin und Ministerpräsidenten mit einer Stimme sprechen und auch so handeln. Das Schlimmste ist die Kakophonie nach einem solchen Gipfel, wenn jedes Bundesland seinen eigenen Weg geht – obwohl es doch eine gemeinsame Grundlinie geben sollte. Wir verlieren die Menschen, wenn wir nicht zurückkehren zu klaren Botschaften und nachvollziehbaren Entscheidungen.

Die Lage unterscheidet sich von Land zu Land, von Kreis zu Kreis.

Jung: Bei allem Föderalismus und aller kommunalen Selbstverwaltung: Die Mobilität ist groß, wir sind miteinander verwoben. Daher brauchen wir möglichst einheitliche Regeln.

Das Impfen geht in Deutschland schleppend voran - und jetzt ist auch noch das Präparat von Astrazeneca für mehrere Tage gestoppt worden. Welche Folgen hat das?

Jung: Es gibt Verunsicherung. Ich fürchte, viele Menschen müssen erst wieder überzeugt werden, dass eine Impfung mit Astrazeneca sinnvoll ist, weil sie vor der Krankheit schützt.

Sie könnten sich Astrazeneca öffentlich spritzen lassen, um für Vertrauen in der Bevölkerung zu werben ...

Jung: Das würde ich gerne machen, will mich aber nicht vordrängeln. Kollegen von mir werden schon staatsanwaltlich belangt, weil sie sich zu früh impfen ließen. Wir sollten uns aber fragen, ob wir die Priorisierung nach der heutigen Impfverordnung noch brauchen, wenn alle Menschen über 70 Jahre durch sind und wir tatsächlich genügend Impfstoff in Deutschland haben. Dann könnte man auch den niedergelassenen Ärzten erlauben, von der bisherigen Reihenfolge abzuweichen. Wenn ich an der Reihe bin, lasse ich mich auch mit Astrazeneca impfen.

Impf-Weltmeister Israel verabreicht die Wirkstoffe sogar in Baumärkten und Bars - scheitern die Deutschen an ihrem Perfektionismus?

Jung: Wir haben vor allem viel weniger Impfstoff als in Israel. Aber ein bisschen ist es bei uns in der Pandemie schon so: Vieles ist unglaublich bürokratisiert. Wir wollen perfekt sein, kommen aber oft nicht aus dem Quark.

Wie denken Sie über einen Impf-Pass, mit dem Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen?

Jung: Der Impfpass muss kommen – und zwar europaweit. Nur so finden wir wieder zur Normalität zurück. Und wir wollen ja wieder reisen, ins Theater oder ins Fitnessstudio gehen.

Was sagen Sie jenen, die das unsolidarisch finden?

Jung: Was ist unsolidarisch? Wenn Corona-Leugner zu Tausenden demonstrieren und die Hygieneregeln nicht einhalten. Oder einen Polizisten anspucken. Aber es ist doch nicht unsolidarisch, wenn Geimpfte ihre ganz normalen Bürgerrechte wieder wahrnehmen. Und da wir gerade von Solidarität sprechen: Ich mache mir Sorgen, dass die Corona-Politik von Bund und Ländern die Unterstützung vor Ort verliert – auch bei den Oberbürgermeistern.

Inwiefern?

Jung: Die Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister im Städtetag haben die Corona-Maßnahmen in den Städten immer wieder verteidigt. Diese Geschlossenheit wird brüchig. Wenn es Bund und Ländern nicht gelingt, die Menschen mit klaren Regeln und guter Kommunikation von der Corona-Politik zu überzeugen, bekommen wir eine schwierige Situation. Wir haben besonders nach der letzten Bund-Länder-Runde eine Frustration erlebt in den Kommunen, die nicht klein ist. Davon müssen wir wegkommen. Deshalb unser Appell an Bund und Länder, am Montag klare und erklärbare Entscheidungen zu treffen und Geschlossenheit zu zeigen.