Berlin. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind für die Politik wichtiger denn je. Das sind Angela Merkels Berater – und ihre Positionen.
- Wenn Kanzlerin Angela Merkel an diesem Mittwoch mit den Chefinnen und Chefs der Länder zum Corona-Gipfel zusammenkommt, dann wird unter anderem auch die Einschätzung von Experten in Entscheidungen einfließen
- Kritiker werfen vor allem Merkel vor, einseitig denen zuzuhören, die ihren eigenen Kurs stützen
- Welche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Ohr der Kanzlerin haben, zeigt dieser Überblick
Die Bundeskanzlerin ist eine Frau mit Sinn für Details. Angela Merkel, Physikerin, will sich auskennen in den Themen, über die sie entscheidet, mag es, sich in die hintersten Winkel der Wissenschaft einzugraben. Selten war diese Eigenschaft so dienlich wie jetzt, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler täglich neue Erkenntnisse über Sars-CoV-2 liefern.
Auf wen hört die Kanzlerin in der Pandemie?
Im Kampf gegen die Pandemie lassen die Kanzlerin und die Regierungschefs und -chefinnen der Länder sich deshalb von ausgewählten Experten beraten. Kritiker werfen vor allem Merkel vor, einseitig denen zuzuhören, die ihren eigenen Kurs stützen.
- Das Virus bleibt: Neue Corona-Variante – Sorgt KP.2 für eine Sommerwelle?
- AstraZeneca: Corona-Impfstoff in der EU nicht mehr zugelassen – die Gründe
- Nach Corona: Diese Viren könnten eine neue Pandemie auslösen
- Studie: Depressionen möglich? Corona attackiert die Glückshormone im Gehirn
- Jugendliche: Was eine verfrühte Pubertät mit der Corona-Pandemie zu tun hat
Matthias Schrappe, Medizin-Professor und ehemaliger „Gesundheitsweiser“ der Bundesregierung, sprach kürzlich sogar davon, Merkel leide am „Kuba-Syndrom“ – und umgebe sich, wie die sozialistische Insel-Elite, nur mit denen, die ihrer Meinung seien. Auf wen hört die Kanzlerin in der Pandemie – und welche Positionen vertreten die Expertinnen und Experten? Ein Überblick:
Charité-Virologe Drosten – Mahner der ersten Stunde
Christian Drosten: Er war einer der Ersten, die vor Corona gewarnt haben, und erklärt immer wieder, welche Konsequenzen eine ungehinderte Ausbreitung des Virus hätte: Wenn Christian Drosten, Chef des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, erklärt, wie er die Situation in der Pandemie beurteilt, hören ihm viele zu – auch im Kanzleramt.
Drosten gehört seit Beginn der Pandemie zu den mahnenden Stimmen: Er unterstützte vor Weihnachten die Forderung der Leopoldina nach einem harten Lockdown und nannte den Appell eine „deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft“. Wenige Tage später folgten die Kanzlerin und die Regierenden der Länder der Forderung und das Land ging in den Winterschlaf.
RKI-Chef Lothar Wieler – gefragter als je zuvor
Lothar Wieler: Ebenso wichtig wie Drosten in der Runde der Berater ist RKI-Präsident Lothar Wieler: Der Tiermediziner und seine Behörde sind gefragter denn je. Beim Robert-Koch-Institut laufen die wichtigsten Daten zur Pandemielage in Deutschland zusammen. Wie Wieler und sein Team die Situation analysieren, ist eine zentrale Entscheidungsgrundlage für die Politik.
Angesichts von wieder steigenden Infektionszahlen sah das Institut zuletzt eine Trendumkehr zum Schlechteren. Wieler warnte am Freitag, das Land würde in eine dritte Welle hineinsteuern, würden die Maßnahmen nicht weiterhin konsequent umgesetzt.
Interaktiv: Corona-Monitor – Die Zahlen aus Deutschland, Europa und der Welt
SPD-Experte Lauterbach – das Gesicht der Pandemie
Karl Lauterbach: SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist neben Drosten das Gesicht der Pandemie. Niemand kommt auf eine so große Medienpräsenz wie Lauterbach. Die Kanzlerin und der Sozialdemokrat tauschen sich regelmäßig per SMS aus.
Oder direkt, wie Mitte Februar im Bundestag kurz vor einer Regierungserklärung. Da diskutierten und gestikulierten Merkel und Lauterbach – beide mit FFP2-Maske – minutenlang. Wie die Kanzlerin ist Lauterbach die wandelnde Vorsicht. Kein Abgeordneter liest so viele Studien, die weltweit zu Covid-19 und Folgewirkungen publiziert werden, wie er. Jetzt warnt er eindringlich vor der dritten Welle.
Interaktiv: Corona-Krise – So ist die Lage auf Deutschlands Intensivstationen
Helmholtz-Forscher Meyer-Hermann – Vertrauter der Kanzlerin
Michael Meyer-Hermann: Immer wieder fragt die Kanzlerin auch nach dem Rat der Expertinnen und Experten vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Dort arbeitet zum Beispiel Physiker Michael Meyer-Hermann, den Merkel im Herbst zum ersten Mal zurate zog. Meyer-Hermann stellte damals eine Modellierung der zu erwartenden Infektionszahlen vor. Botschaft: Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf.
Lesen Sie auch: Corona-Schnelltests: So weisen sie die Virusinfektion nach
Die Berechnungen erwiesen sich als richtig und brachten ihm das Vertrauen der Kanzlerin ein. Auch jetzt noch gehört der 54-Jährige zu den Vertretern eines eher vorsichtigen Kurses: Er ist einer der Autoren des No-Covid-Strategiepapiers, das im Januar für Aufsehen sorgte. Meyer-Hermann und seine Mitstreiter skizzieren darin einen Weg aus dem Jo-Jo von Lockdown und Lockerung.
Erst soll die Inzidenz so weit wie möglich nach unten gedrückt werden, anschließend mit örtlicher Aufhebung von Beschränkungen und schnellem Reagieren bei neuen Ausbrüchen dort gehalten werden. Zielgröße für den ersten Schritt: nicht mehr als zehn Fälle pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen.
- Medizinprodukte: Corona-Test abgelaufen – Kann man ihn noch benutzen?
- Richtiges Verhalten: Corona-positiv ohne Symptome – Kann ich arbeiten gehen?
- Infektion: Corona-Test ist positiv? Das müssen Sie jetzt tun
Virologin Brinkmann – enttäuscht von den Ministerpräsidenten
Melanie Brinkmann: Unterzeichnet hat das Papier auch die Virologin Melanie Brinkmann, die ebenfalls am Helmholtz-Institut forscht. Brinkmann hatte die Ministerpräsidentenkonferenz im Januar beraten und zeigte sich hinterher frustriert darüber, wie die Runde ihre Informationen aufgenommen hatte: Viele seien wirklich bemüht, aber es gebe Teilnehmer, „die sind nicht richtig im Thema“, sagte sie dem „Spiegel“.
Auch interessant: Astrazeneca-Impfstoff: Überraschende Wirkung bei Älteren
Mobilitätsforscher Nagel – lobt die Disziplin der Bürger
Kai Nagel: Merkel und einige Staatskanzleien der Länder schätzen auch die Expertise des Berliner Mobilitätsforschers Kai Nagel. Der 55-Jährige befragt mit seinem Team an der TU Berlin regelmäßig seine Computersimulationen, wie sich die Pandemie entwickelt und wo Gefahren drohen. Nagel gilt als besonnene Stimme. Ihn drängt es nicht in die erste Reihe, schon gar nicht in TV-Shows.
Den Eindruck, die Deutschen hielten sich nicht mehr an Abstand- und Maskenregeln, weist er zurück. Die Daten zur Mobilität zeigten vielmehr etwas anderes: „Die Bevölkerung war und ist diszipliniert.“ Aufgrund der britischen Virusmutation sei eine dritte Welle jedoch unvermeidbar. „Die Frage ist nur noch, wie hoch sie ist“, sagt Nagel.