Berlin. Asylsuchende leben ohnehin schon in engen und isolierten Unterkünften. Während der Pandemie wird das für sie zum Gesundheitsrisiko.

Leila Salhab fühlt sich eigentlich gerade wie jede andere Mutter während der Corona-Pandemie. Sie ist 38 Jahre alt, alleinerziehend, hat zwei Kinder, den elfjährigen Mustafa und die 13-jährige Lea. Das Homeschooling sei eine enorme Belastung, die Kinder nur schwer zu motivieren, Hausaufgaben zu machen und vor allem sie davon abzuhalten, ständig auf einen Bildschirm zu schauen. Der normale Pandemie-Ärger eben. Einerseits.

Andererseits flüchtete sie 2019 aus dem Libanon und beantragte nach mehreren gescheiterten Versuchen in Berlin Asyl. Ihr Status ist damit legal, das Verfahren läuft. Sie lebt in einem der besten Flüchtlingsheime Berlins. Jetzt müsste sie das Abwarten nur noch aushalten. Doch vieles ist schwerer für sie als vor Corona.

Das Haus in dem sie wohnt, wurde erst 2019 fertiggestellt. Die Hausfassade ist weiß, im Innenhof wartet ein gepflegter Spielplatz darauf, bespielt zu werden. Doch an diesem Vormittag kommt kaum ein Kind raus. Im Haus sind die Flure sauber, im Waschmaschinenraum unterhalten sich zwei Frauen, eine trägt Kopftuch, die andere Turban. Sie halten Abstand und tragen Mundschutz, das ist überall Pflicht, nur in der eigenen Wohneinheit nicht. Die meisten Bewohner bleiben in ihren Wohnungen. Wieder begegnet man kaum jemanden. Alles wirkt steril und still.

Flüchtlinge während der Corona-Pandemie: Äußere und emotionale Isolation

Während der Pandemie leben die Menschen in Flüchtlingsunterkünften noch isolierter als sonst. Wer in einer Asylunterkunft lebt, in der Küchen, Duschen und Toiletten gemeinsam genutzt werden, hat oft Hunderte Menschen um sich. Viele teilen sich sogar Schlafräume. Leyla Salhab muss das zum Glück nicht.

Ihr geht es mit ihrer Unterkunft eigentlich viel besser, sie sagt Sätze wie: „Das Leben an diesem Ort ist der Himmel“. Dieser Ort ist eine Flüchtlingseinrichtung der Kategorie 2 im feineren Berliner Westen am Teltow-Kanal. Sie hat für sich und ihre Kinder ein kleines Appartement, 38 Quadratmeter, ein Flur, eine Küchenzeile, dahinter eine Nische, ein Bad mit Dusche, ein Zimmer. Das eigene Bad, die eigene Küche machen den Unterschied zu einer sogenannten Sammelunterkunft aus.

Bewohner aus anderen Häusern berichten, dass sie aus Angst vor Ansteckung nur selten ihre Zimmer verlassen. Und immer wieder werden nach größeren Corona-Ausbrüchen ganze Häuser von den Gesundheitsämtern unter Vollquarantäne gestellt, die Bewohner dürfen dann tagelang ihre Zimmer oder Wohnungen nicht verlassen. Draußen passen Wachleute und Polizei auf, dass die Quarantäne eingehalten wird. Das Essen wird dann von einem Caterer geliefert. Die Situation isoliere viele von ihnen auch emotional, viele fühlen sich einsam.

Leyla Salhab wartet darauf, dass ihr Asyl in Deutschland gewährt wird. Einen Termin beim Ausländeramt hat sie wegen Corona verpasst.
Leyla Salhab wartet darauf, dass ihr Asyl in Deutschland gewährt wird. Einen Termin beim Ausländeramt hat sie wegen Corona verpasst. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Flüchtlingsheime unter Quarantäne: keiner darf mehr rein noch raus

Ein Ankerzentrum in Bayern geriet gerade in die Schlagzeilen und in Kamenz bei Dresden fehlten angeblich Seife und Desinfektionsmittel für die Bewohner, das Flüchtlingshaus wurde unter Quarantäne gestellt, auch in Berlin-Reinickendorf hatte das Gesundheitsamt eine Einrichtung kürzlich für eine Woche „geschlossen“, von dieser Quarantäne waren 136 Menschen betroffen. In den Hochphasen der Pandemie gibt es diese Meldungen fast im Wochentakt. Allein in der ersten Pandemie-Welle bis August gab es laut einer Studie der Universität Heidelberg 200 Ausbrüche in Sammelunterkünften.

Selten sind Asylsuchende auf der Tagesordnung der Bundesregierung. Die Pandemie-Lage für Menschen auf der Flucht landet nicht auf dem Schreibtisch von Gesundheitsminister Jens Spahn. Der Schutz der Geflüchteten ist Ländersache. Jedes Bundesland arbeitet eigene Konzepte aus.

Und je mehr Deutschland über das Virus weiß, desto mehr wachsen auch die Krisenkonzepte für Asylunterkünfte mit Hunderten Menschen auf engem Raum: Die Behörde in Schleswig-Holstein etwa verteilt Masken-Paket, eines gleich zu Beginn, weitere werden im Wochentakt ausgegeben.

Abstand halten, auch im Haus muss Maske getragen werden

Was für Innenstädte, Bahnfahrten oder Nachbarschaften gilt, gilt auch in Asylunterkünften: Abstand muss einhalten werden, Hygienemaßnahmen wurden verschärft, Masken sind in bestimmten Räumen Pflicht. Nur: Der Aufwand, diese Maßnahmen durchzusetzen und zu kontrollieren, ist oftmals viel schwieriger für die Organisatoren in den Unterkünften. Vor allem aus einem Grund: Die Enge, die Masse an Menschen.

Wenn es zu einem Ausbruch kommt, dann ist die Zahl der Infizierten hoch – laut Studie der Heidelberger Forscher mit durchschnittlich 21 Ansteckungen pro Ausbruch zumindest in der ersten Phase der Pandemie höher als in Altenheimen oder Pflegeeinrichtungen. Derzeit arbeiten die Forscher an einer aktuellen Studie mit Zahlen aus den vergangenen Monaten.

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Anfang des Jahres brach in einer Massenunterkunft im bayerischen Bamberg Corona aus, zuerst waren 55 von 900 Getesteten positiv. Am Ende infizierten sich mehr als 200. Zudem griff die Quarantäne-Verordnung, zunächst für alle Menschen in der Unterkunft.

Flüchtlingsorganisationen hatten im Fall Bamberg scharfe Kritik geübt. Es fehle an Klopapier, Masken und Desinfektionsmittel. Bei der Essensausgabe über einen Bauzaun hinweg stünden die Menschen teilweise dicht gedrängt. Die örtliche Regierung wies die Vorwürfe zurück. Zwar habe nicht jede Person ein eigenes Zimmer, aber es seien schnell zusätzliche Wohnräume aufgebaut worden, Abstandsregeln könnten eingehalten werden.

Flüchtlingsrat: „Vollquarantänen sind Freiheitsentziehung“

Der Berliner Flüchtlingsrat kritisiert die Quarantänen für ganze Einrichtungen: „Vollquarantänen sind als Freiheitsentziehung ohne richterlichen Beschluss rechtswidrig“, sagt Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat. Auch nach dem Infektionsschutzgesetz müssten stets Kranke von Gesunden getrennt werden. In Berlin und anderen Bundesländern gibt es dafür auch Möglichkeiten, in zwei Extra-Einrichtungen bringt die Hauptstadt Coronavirus-Infizierte unter.

Nordrhein-Westfalen mietete Zimmer in Jugendherbergen an, um Flüchtlinge mit Vorerkrankungen und Risikopatienten in eigenen Einrichtungen unterzubringen. Auch Bayerns Landesregierung setzt nach eigenen Angaben auf separate Unterkünfte etwa für vorerkrankte Menschen.

Leila Salhab: „Mein Leben steht durch Corona auf dem Kopf“

Für das Gespräch in der Berliner Unterkunft schlägt Leila Salhab aus dem Libanon den Spielplatz im Innenhof vor. Alles ist sauber hier - und ruhig. Selten kommt jemand heraus, kaum Kinder spielen. Danach gefragt, wie es ihr gehe, antwortet sie: „Mein Leben steht durch Corona auf dem Kopf, ich fühle mich um fünf bis zehn Jahre zurückgeworfen.“ Ein Leben, das ohnehin gerade neu beginnt für die kleine Familie. Mit allen Hoffnungen und Ängsten einer Flucht. Der Angst, abgeschoben zu werden, zum Beispiel. Einen Termin in der Ausländerbehörde hat sie schon verpasst – wegen Corona.

Salhab hatte Ende Januar Corona, ihre Tochter Lea auch, der Junge hat sich nicht angesteckt, sie waren dann zwei Wochen lang in ihrer Wohnung. „Ich habe es zuerst nicht einmal gemerkt, ich war nur müde. Tagelang, dann hatte ich die ersten Grippesymptome.“ Nach der Quarantäne war nicht mehr viel wie vorher. Der Tages- und Nachtrhythmus der Familie hatte sich umgestellt. „Die Pandemie hat für uns Chaos ausgelöst. Uns fehlt gerade eine gesunde Routine“, erklärt Leila Salhab.

Mehrere Behörden melden auf Anfrage unserer Redaktion zurück, dass sie nur selten schwere Krankheitsverläufe registrieren. Beim großen Ausbruch in der Massenunterkunft in Bamberg infizierten sich bis Ende Februar 208 Geflüchtete. Die meisten hatten keine oder milde Symptome. Eine einfache Erklärung: Die meisten Flüchtlinge sind jung, selten älter als 40.

Wenig verlässliche Daten über die Infektionen in Asylheimen

Ein Problem im Kampf gegen die Pandemie in Asylunterkünften ist: Es gibt wenig verlässliche bundesweite Daten. Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten berichtet, dass sich von etwa 19.000 Flüchtlingen in Berlin seit Beginn der Pandemie 1237 mit dem Coronavirus infiziert haben. Das Robert-Koch-Institut meldet einmal in der Woche, wie viele Menschen sich in besonderen Einrichtungen und Institutionen mit dem Coronavirus angesteckt haben. Danach sollen sich seit Beginn der Pandemie nur 4151 Flüchtlinge in Asylheimen infiziert haben.

Aber längst nicht alle Einrichtungen melden ihre Zahlen. Die tatsächliche Anzahl der bisherigen Corona-Fälle muss viel höher sein. Allein Bayern meldet auf Nachfrage unserer Redaktion mehr als 8000 Corona-infizierte Flüchtlinge seit Beginn der Pandemie. Und das RKI zählt auch nur sechs an dem Virus Verstorbene, allein in Berlin sind vier Flüchtlinge an Corona gestorben. Jeder zählt für sich.

In Berlin gibt es derzeit 40 aktive Corona-Infektionen unter Flüchtlingen

Derzeit gibt es in Berlin etwa 40 aktive Fälle unter Flüchtlingen, 35 davon kommen aus Sammelunterkünften und wurden in der speziellen Quarantäne-Unterkunft untergebracht. In Bayern sind es 178. In Nordrhein-Westfalen nur acht, allerdings in den Einrichtungen des Landes. Dutzende Sammelunterkünfte der Kommunen kommen hinzu. Auch hier bündelt niemand die Daten.

Und jeder testet für sich. Neben den Masken sind die Corona-Tests entscheidend im Kampf gegen eine Ausbreitung von Corona unter Flüchtlingen. Beispiel Schleswig-Holstein: Die Behörden testen jeden Asylsuchenden direkt nach der Ankunft in der Erstaufnahmeeinrichtung – und kommen in Quarantäne. Erst nach einem zweiten negativen Test kommen sie in eine andere Unterkunft. Andere Bundesländer testen ähnlich. Das zeige, „dass die Flüchtlinge das Virus nicht mitbringen, sondern sich fast ausnahmslos erst durch Kontakte in Deutschland infizieren“, sagt etwa das bayerische Innenministerium.

7000 Geflüchtete haben die Behörden in Schleswig-Holstein allein in diesem Jahr getestet, zusätzlich zu den Neuankommenden. Bis heute haben sich demnach 4,4 Prozent mit Corona angesteckt. Die Dunkelziffer dürfte bei der hohen Testdichte relativ gering sein. Unter allen Menschen in Deutschland liegt sie laut RKI derzeit bei 2,9 Prozent – mutmaßlich mit einer deutlich höheren Dunkelziffer.

Aufgrund der Hygienemaßnahmen und vor allem aufgrund der vielen Corona-Tests in den Unterkünften, hätten „die Flüchtlinge in unseren Gemeinschaftsunterkünften kein höheres Infektionsrisiko als die Gesamtbevölkerung“, sagt Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) unserer Redaktion.

Flüchtlingrat: Jeder Flüchtling sollte eine eigene Wohnung haben

Wenn sich Menschen in ihrer Asylunterkunft anstecken, aber ein eigenes Bad haben, können sie dort in Quarantäne bleiben. „Aber ab wann eine ganze Flüchtlingsunterkunft unter Quarantäne gestellt werden muss, entscheidet das hiesige Gesundheitsamt“, erklärt Monika Hebbinghaus vom Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Der Flüchtlingsrat fordert zum besseren Schutz der Flüchtlinge, Massenunterkünfte zu schließen und sie stattdessen in Ferienwohnungen unterzubringen. Denn: Der Tourismus liege brach, die Ferienhäuser stünden ohnehin leer. Außerdem müsse es für alle kostenlose FFP2-Masken und Schnelltests geben.

Monika Hebbinghaus, Sprecherin des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten.
Monika Hebbinghaus, Sprecherin des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Lockdown: Auch die 13-jährige Tochter ist antriebslos

Leila Salhabs Tochter Lea darf seit Mittwoch wieder in die Schule gehen. Obwohl sie erst nicht wollte: Sie sagte zu ihrem Lehrer, sie sei nicht in der Stimmung. Die Mutter lässt das nicht gelten, schließlich habe die 13-Jährige eine Empfehlung für das Gymnasium. „Und das soll sie auch schaffen“, sagt Salhab.

Salhab selbst will ebenfalls ihren Weg in Deutschland gehen, sie spricht gut Englisch, Französisch und Arabisch und lernt, so gut es gerade ohne richtigen Kurs geht, Deutsch. „Ich möchte mal als Sozialarbeiterin in Deutschland arbeiten oder an einer Hotelrezeption wegen meiner Sprachkenntnisse“, sagt sie über ihre Zukunft.

Muss für Hygiene und Abstand sorgen: Tanja Baumgarten, Leiterin des Flüchtlingsheims in der Berliner Bäkestraße, das erst 2019 eröffnet wurde.
Muss für Hygiene und Abstand sorgen: Tanja Baumgarten, Leiterin des Flüchtlingsheims in der Berliner Bäkestraße, das erst 2019 eröffnet wurde. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Einrichtungsleitung gibt sich Mühe, die Bewohner zu unterstützen. Tanja Baumgarten war von Anfang an dabei, das Flüchtlingshaus im Berliner Westen wurde im April 2019 eröffnet. Davor hat sie in den Flüchtlingsunterkünften in den Hangars am alten Flughafen in Tempelhof gearbeitet. Sie erzählt, dass Ehrenamtliche die Kinder beim Homeschooling unterstützen, dass die Nachfrage und Hilfsbereitschaft groß seien. Sie berichtet, wie die Mitarbeiter versuchen, alle Behördengänge, die gerade nicht möglich sind, per E-Mail zu erledigen. „Wir müssen für die Bewohner die Brücke nach draußen schlagen“, erklärt Baumgarten.

Pandemie: Auch das Personal im Flüchtlingsheim ist geschafft

Die Pandemie kostet Kraft, nicht nur für die Geflüchteten, sondern oft auch für das Personal, das dort arbeitet. „Viele arbeiten am Limit“, sagt ein Behördensprecher. Statt Sportkursen oder Schneiderwerkstatt bieten die Mitarbeitenden jetzt Info-Abende zu Corona an. Statt Kinderbetreuung stehen Hygieneregeln auf dem Plan. Und weil die Gruppen kleiner sein müssen, frisst das mehr Zeit als sonst. Einige Kurse fallen ganz aus.

Danach gefragt, was sie sich wünschen würde, sagt die Berliner Heimleiterin Baumgarten: „Dass die Kinder wieder mehr Kontakte haben können und dass die Flüchtlinge bald gegen Corona geimpft werden.“