Berlin. Kanzleramtsminister Helge Braun über das Impftempo, den Wert von Schnelltests und das voraussichtliche Ende der Corona-Beschränkungen.
Neun Stunden hat das Kanzleramt mit den Ministerpräsidenten um Öffnungen gerungen. Am Tag danach hagelt es Kritik. Helge Braun sieht die Gefahren, die mit der Aufhebung von Corona-Maßnahmen verbunden sind. Im Interview gibt sich der Kanzleramtsminister trotzdem ausgesprochen optimistisch.
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Deutschland hat Lockerungen beschlossen, die das Kanzleramt lange nicht wollte. Haben Sie kapituliert, Herr Braun?
Helge Braun: Nein. Wir sind in einer Phase der Pandemie, in der wir erheblich größere Testkapazitäten haben. Schnelltests sind inzwischen in enormen Stückzahlen verfügbar, und mit ihrem tagesaktuellen Einsatz kann man sehr viel zusätzliche Sicherheit gewinnen. Deswegen geben wir Öffnungsperspektiven.
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Sie haben den Inzidenzwert 35 als Ziel für Lockerungen aufgegeben. Läden oder Museen können schon am Montag überall dort öffnen, wo es weniger als 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen gibt – obwohl sich aggressivere Virusvarianten rasend schnell ausbreiten.
Braun: Das ist deshalb zu verantworten, weil es die Notbremse gibt. Bei einer Inzidenz von 100 gehen wir regional – also in einem Landkreis oder einem Bundesland – auf unseren aktuellen Lockdown zurück. Alle müssen sich klarmachen, dass wir diese vorsichtigen Öffnungsschritte sehr verantwortungsvoll nutzen müssen. Wenn sich alle unbeschwert benehmen, wird es nicht funktionieren. Die Testmöglichkeiten müssen sehr intensiv angenommen werden. Und die Vorsichtsmaßnahmen dürfen nicht reduziert werden: Abstand, Maske, Hygiene – das gilt alles weiter. Wir haben die Pandemie nicht überwunden und wir können sehr schnell wieder in einer Situation sein, in der eine Überlastung des Gesundheitssystems droht. 100 ist eine sehr hohe Inzidenz für eine Notbremse.
Geben Sie Ihr Wort, dass genügend Schnelltests verfügbar sein werden?
Braun: Für den Testumfang, den wir jetzt versprochen haben, gibt es nach meiner festen Überzeugung genügend Schnelltests. Der traditionelle Schnelltest wird schrittweise von dem etwas angenehmeren Selbsttest abgelöst. Wenn man beide Arten von Tests zusammennimmt, haben wir definitiv genug.
Wenn sich jeder Bürger einmal die Woche von geschultem Personal testen lassen will, ist Chaos in den Testzentren programmiert.
Braun: Wir brauchen einen schnellen Aufbau der Infrastruktur für Tests. Das kann nicht der Bund umsetzen. Wir können die Kosten übernehmen und damit den Anreiz setzen. Aber die Testzentren müssen vor Ort entstehen.
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Die Länder werfen dem Bund vor, er habe zu wenig Tests bestellt.
Braun: Es war nie verabredet, dass der Bund für die Länder Schnelltests bestellt. Das ist die Aufgabe der Länder selbst. Der Bund bezahlt, aber er schafft nicht die Infrastruktur – und er schafft die Tests auch nicht an. Man kann sie am Markt jetzt kaufen.
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Sie verlangen Corona-Tests auch in den Unternehmen. Wie stellen Sie sich das vor?
Braun: Wir haben unterschiedliche Erwartungen an kleine und große Unternehmen. Wenn ich an VW oder die großen Fluglinien denke – viele haben eine professionelle Testinfrastruktur. Und bei kleineren Unternehmen stelle ich mir eher vor, dass sie auf dem normalen Einkaufsmarkt ein paar Tests besorgen und ihren Mitarbeitern zur Verfügung stellen. Um die Sicherheit im eigenen Betriebsablauf zu unterstützen, aber auch um wirklich etwas für die Allgemeinheit zu tun. Wenn die Unternehmen ihre Mitarbeiter testen, sind wir in der Pandemiebekämpfung einen großen Schritt vorangekommen.
Wenn Sie sich so auf die Schnelltests verlassen – warum warten Sie dann mit der Öffnung von Restaurants und Hotels?
Braun: Wir setzen auf Tests in einer anderen Größenordnung als bisher. Das läuft erst mal an. Deswegen kann man nicht gleich alle Öffnungen machen. Wir werden mit jedem Lockerungsschritt dazulernen: Wir werden sehen, welche Probleme uns die Mutante in den nächsten Wochen macht – und ob das Testregime so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir wollen vermeiden, dass wir uns plötzlich bei einer Inzidenz von 800 wiederfinden, wie das in anderen Ländern geschehen ist. Wir brauchen Geduld.
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Deutschland impft quälend langsam. Kann die Kanzlerin ihr Versprechen halten, jedem Bürger bis Ende des Sommers ein Impfangebot zu machen?
Braun: Davon sind wir sehr überzeugt. Das Grundproblem ist, dass wir im ersten Quartal und auch noch im April sehr wenig Impfstoff haben. Wenn alle Hersteller ihre Lieferzusagen einhalten, wird das ab Mai deutlich ansteigen. Ende Juni, Anfang Juli werden wir das Zehnfache pro Tag zu verimpfen haben. Alle Hausärzte, Betriebsärzte und Impfzentren werden im Vollbetrieb arbeiten. Dann sind wir mit der gesamten impfbereiten Bevölkerung zügig durch. Aber die Zeit dahin wird uns sehr lang vorkommen.
Könnte Impfstoff aus Russland helfen?
Braun: Wir haben Russland aktiv ermuntert, einen Zulassungsantrag für Sputnik V in Europa zu stellen. Das ist jetzt geschehen. Wir sind allen Impfstoffen gegenüber aufgeschlossen, die eine europäische Regelzulassung haben. Das ist für uns der Qualitätsmaßstab.
In Israel wird auch in Bars oder auf der Straße geimpft. Warum ist das in Deutschland nicht möglich?
Braun: Deutschland muss schneller werden, wenn es um die Umsetzung von Digitalprojekten geht. Aber in der Frage der Impfdurchführung bin ich wirklich anderer Meinung. Wir sind ein Land mit einem ausgeklügelten medizinischen Versorgungssystem. Unsere hohen Qualitätsstandards bei Aufklärung, Durchführung und Nachbetreuung durch einen Arzt sollten wir nicht aufgeben.
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Scheitert Deutschland an seinem Perfektionismus?
Braun: Wir haben alles getan, was zur Beschleunigung der Impfkampagne geboten ist: die frühzeitige Einbindung der Hausärzte, der größere Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung. Unser Knappheitsproblem ist die Produktion und die Lieferung von Impfstoff.
Astrazeneca liegt ungenutzt herum. Warum geben Sie das Vakzin nicht für alle frei?
Braun: Wir haben erst wenige Millionen Dosen von Astrazeneca bekommen. Ein Angebot an 80 Millionen Menschen wäre ein völlig unerreichbares Versprechen.
Sie könnten sich auf die drei Priorisierungsgruppen konzentrieren.
Braun: Die Ministerpräsidenten haben in Abrede gestellt, dass bei ihnen viel Astrazeneca herumliegt. Das würde für die Priorisierungsgruppen gar nicht ausreichen.
Sollten Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen?
Braun: Wenn wir jedem in Deutschland ein Impfangebot gemacht haben, dann können wir zur Normalität in allen Bereichen zurückkehren. Diejenigen, die ihr Impfangebot nicht wahrnehmen, treffen ihre individuelle Entscheidung, dass sie das Erkrankungsrisiko akzeptieren. Danach können wir aber keine Grundrechtseinschränkung eines anderen mehr rechtfertigen. Dann kehren wir im vollen Umfang zur Normalität zurück. Und alle Einschränkungen fallen.
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Wann wird das sein?
Braun: Im Sommer – unter zwei Bedingungen: Die Impfstoffhersteller halten ihre Lieferversprechen ein. Und es taucht keine Mutante auf, die den ganzen Impferfolg infrage stellt.
Was ist mit denjenigen, die vor dem Sommer geimpft sind?
Braun: Als Zwischenstadium zur Normalität kann ich mir vorstellen, dass drei Gruppen ihre Freiheitsrechte zurückbekommen: Geimpfte, Genesene und aktuell Getestete. Voraussetzung ist, dass sie niemanden gefährden. Dafür gibt es Anzeichen. Wir brauchen aber weitere Studien.
Was bedeutet das für den Sommerurlaub?
Braun: Es wäre ein bisschen kühn, darüber schon zu spekulieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns im Sommer, wie im vergangenen Jahr, draußen ziemlich normal bewegen können. Das Thema Reisen ist komplizierter. Das Virus verbreitet sich durch die Mobilität der Menschen. Aber ich gehe davon aus, dass wir ab Pfingsten über Reisen und Freizeit deutlich entspannter reden können.
Und an Ostern?
Braun: Ich bin sehr skeptisch, was Reisen an Ostern angeht.
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Was wird aus dem nächsten Schuljahr?
Braun: Ich hoffe, dass im Spätsommer ein ganz normales Schuljahr beginnt, mit Präsenzunterricht für alle.
Ein Jahr Corona-Krisenmanagement, Herr Braun – geht das an die Grenze Ihrer Kräfte?
Braun: Das ist zeitlich belastend, aber auch nicht mehr als Schichtdienst auf der Intensivstation. Was mich schon sehr beschäftigt, ist die hohe Verantwortung. Selbst jetzt, mit niedrigen Fallzahlen, haben wir immer noch mehr als 300 Tote jeden Tag aus dieser Pandemie. Wir haben viele Menschen, die an den Folgen der Erkrankung und unter den Maßnahmen zur Eindämmung leiden. Da merkt man, wie ernst diese Aufgabe ist. Es ist eine Zeit, in der man angespannt ist. Nach vier Monaten Lockdown in Deutschland sind wir alle sehr erschöpft.
Was war für Sie der schwierigste Moment?
Braun: Die Ministerpräsidentenkonferenz von dieser Woche war einer der schwierigsten Momente. Wir haben die Mutante, die Zahlen steigen wieder. Da ist es schwierig, ein Konzept zu erarbeiten, das den Bedürfnissen nach Öffnung und Perspektive gerecht wird und gleichzeitig unter Sicherheitsaspekten zu verantworten ist. Es war besonders kompliziert, zu einer Einigung zu kommen. Die Gespräche haben neun Stunden gedauert.
Wie versuchen Sie, wach und konzentriert zu bleiben?
Braun: Da habe ich kein besonderes Geheimnis. Ich bin in der Notfallmedizin groß geworden. Da gibt es Dienste, in denen man stundenlang gar nichts zu tun hat, und wenn es ernst wird, muss man auf den Punkt seine Leistung bringen. Manche finden das furchtbar. Ich mache es eigentlich ziemlich gern.
Können Sie sich vorstellen, wieder als Arzt zu arbeiten?
Braun: Selbstverständlich. Ich bin nicht aus der Medizin geflüchtet. Es war verlockend, im Deutschen Bundestag etwas für das ganze Land zu bewegen. Aber wenn ich an meine Kollegen denke, die in den Kliniken um das Leben von Corona-Patienten kämpfen, muss sich sagen: Auch deren Einsatz würde ich gerne unterstützen.