Brüssel/London. Trotz abgelaufenem Ultimatums des EU-Parlaments: Die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien gehen weiter.
Das Chaos ist da, auch ganz ohne harten Brexit. Wenige Tage vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember stauen sich auf beiden Seiten des Ärmelkanals, vor allem in den Fährhäfen Dover und Calais, die Lastwagen über viele Kilometer.
Befürchtet worden war die Misere für den Fall, dass die EU und Großbritannien nicht rechtzeitig ein Handelsabkommen schließen – jetzt machen die Kontinentaleuropäer die Grenzen wegen der neuen Coronavirus-Variante dicht. Lesen Sie auch: Barnier: Nur noch „einige Stunden“ für Brexit-Handelspaket
EU und Großbritannien: Am Thema Fischereirechte zerstritten
Aber die Szenen sind ein Vorgeschmack auf das, was den Briten in den nächsten Wochen noch bevorstehen könnte. Denn ein Handelsabkommen, das eigentlich zum 1. Januar in Kraft treten sollte, war am Montag immer noch nicht vereinbart. Hoffnungen auf eine Einigung zum Wochenende hatten sich zerschlagen, die Gespräche gingen jedoch weiter.
Beide Seiten hatten sich am Thema Fischereirechte in der britischen Nordsee zerstritten. Großbritannien möchte die Fangquoten für EU-Fischer drastisch reduzieren, damit die heimische Flotte entsprechend mehr aus dem Meer holen kann.
Briten fordern Verzicht auf 80 Prozent
Das Thema ist ökonomisch drittrangig, aber für die Briten emotional aufgeladen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier bot zuletzt an, die EU könne auf 20 Prozent der bisherigen Quote verzichten, die Briten fordern den Verzicht auf 80 Prozent. Barniers Spielraum ist begrenzt: Vor allem Frankreich warnt mit Blick auf seine Fischer vor zu großen Zugeständnissen der EU. Auch interessant: Brexit-Verhandlungen: Briten machen mobil für Notstand
Umgekehrt fürchtet Premier Boris Johnson eine Blamage, wenn er bei diesem Thema nachgibt. Wegen des Streits war in der Nacht zum Montag ein weiteres Ultimatum abgelaufen: Das EU-Parlament hatte erklärt, ein später vereinbarter Vertrag könne nicht mehr rechtzeitig vor dem Jahreswechsel ratifiziert werden.
EU-Parlament: Störungen so gering wie möglich zu halten
Der Chef der Brexit-Arbeitsgruppe des Parlaments, David McAllister (CDU), sagte unserer Redaktion: „Das Parlament hat sich über die gesamten Verhandlungen hinweg äußerst flexibel und pragmatisch gezeigt. Aber ein noch mögliches Abkommen können wir nicht mehr in einem normalen förmlichen Zustimmungsverfahren bestätigen.“ Lesen Sie hier: Brexit: Staus am Ärmelkanal schon vor Übergangs-Ende
McAllister sicherte aber zu, das Parlament werde alles tun, um Störungen für Bürger und Wirtschaft so gering wie möglich zu halten. Aber wie? Es bliebe der EU die Möglichkeit, ein in den nächsten Tagen erzieltes Abkommen mit einem Votum der Mitgliedstaaten vorläufig in Kraft zu setzen und die Parlamentszustimmung später einzuholen.
London schließt Notvariante auch weiter aus
Großbritannien könnte auch beantragen, die Übergangsfrist doch noch zu verlängern. Da wären allerdings rechtliche Hürden zu überwinden, und London schließt die Notvariante auch weiter aus. Lesen Sie auch:Johnson in Not nach Bidens Sieg: Wende beim Brexit?
In Brüssel erklärten EU-Diplomaten, es sei völlig offen, ob in der zugespitzten Lage ein Vertrag in den nächsten Tagen zustande komme. Gesprochen wird nun zunächst bis Mittwochnacht. In der EU-Kommission wird längst erwogen, die Verhandlungen notfalls über die Jahreswende hinaus fortsetzen – und dafür vorübergehend ein Chaos an den Grenzen in Kauf zu nehmen.