Brüssel/London. Woche der Entscheidung beim Brexit-Deal. Briten-Premier Boris Johnson steht unter Druck. Bekommt die EU Hilfe von US-Wahlsieger Biden?
Der Streit um den Brexit-Handelspakt zwischen EU und Großbritannien geht in die entscheidende Runde: In dieser Woche müssen sich beide Seiten eigentlich auf einen Deal verständigen, sonst droht zum Jahresende mit dem Auslaufen der Übergangsphase ein harter Bruch – mit Chaos an den Grenzen und Versorgungsproblemen auf der Insel.
Eingeweihte wie der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, David McAllister, sehen die Erfolgschancen allenfalls bei 50 Prozent. Doch jetzt gibt es in Brüssel neue Hoffnung auf einen Durchbruch: Der Ausgang der US-Präsidentenwahl könne doch noch die ersehnte Wende in den Verhandlungen bringen, heißt es bei EU-Diplomaten.
Sorgt Joe Biden für einen Kurswechsel?
Denn Premierminister Boris Johnson ist in Not, muss seinen Kurs überprüfen: Er hatte sich beim Brexit auf die Unterstützung von US-Präsident Donald Trump verlassen, doch der ist nun abgewählt und kann ihm nicht mehr helfen. Und Trumps Nachfolger Joe Biden hält wenig vom britischen Sonderweg.
Trump hatte den britischen EU-Austritt lautstark unterstützt, und empfahl ihn anderen EU-Staaten als Vorbild. Dem Briten-Premier versprach der US-Präsident voriges Jahr einen „sehr großen Handels-Deal“. Zugleich riet Trump dazu, mit der EU nicht mal einen Austrittsvertrag zu schließen.
Johnson riskiert den harten Bruch mit der EU
Johnson fühlte sich ermutigt in seinem Konfrontationskurs gegenüber Brüssel: Mit einem guten, schnellen Abkommen zwischen London und Washington, einer neuen „besonderen Beziehung“ der beiden Länder, ließe sich ein harter Bruch mit der EU gut verkraften, so das Kalkül. Lesen Sie hier: Boris Johnson riskiert jetzt doch noch das Brexit-Chaos
Verrechnet. Den US-Deal gibt es nicht, Trump muss gehen – und der gewählte US-Präsident Joe Biden ist ein EU-Freund, der den Brexit kritisch sieht, Johnson Bedingungen stellt und den Handelsvertrag mit den Großbritannien eher auf die lange Bank schiebt. Warum?
Bidens Vorfahren stammen aus Irland. Deshalb warnt er eindringlich, dass der Brexit nicht eine neue harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und EU-Mitglied Irland schaffen dürfe, denn das würde den brüchigen Frieden auf der Insel gefährden.
Biden hat ein Problem mit dem britischen Premier
Biden sieht daher neue Pläne von Johnson für ein Binnenmarktgesetz sehr kritisch. Setze die britische Regierung damit den Frieden in Irland aufs Spiel, drohte Biden jüngst Richtung London, werde es gar keinen Handelsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich geben. Auch interessant: Von der Leyen zeigt Johnson die gelbe Karte
Der 77-jährige Biden hat zwar eine Versöhnermentalität, aber auch ein Problem mit Johnson: Den Premier nannte der neue Mann im Weißen Haus schon mal den „physischen und emotionalen Klon von Trump“, was nicht als Kompliment gemeint war.
Im Biden-Lager hat man nicht vergessen, wie Johnson einst abfällige Kommentare über Barack Obama abgab: Obama habe eine Büste von Winston Churchill aufgrund seines „teilkenianischen Erbes“ und einer „Abneigung der Vorfahren gegen das britische Reich“ aus dem Oval Office entfernt, behauptete Johnson 2016. Biden-Vertraute erinnerten bitter an diese Sätze, als Johnson jetzt dem Wahlsieger gratulierte.
Chefunterhändler Barnier wieder in London
Persönlich getroffen haben sich die beiden noch nie. Die britische Opposition warnt, Johnson laufe jetzt Gefahr, Großbritannien international zu isolieren.
Labour-Chef Keir Starmer forderte am Montag, Johnson müsse einlenken und das umstrittene Binnenmarktgesetz, das in der Nordirland-Frage einen Bruch mit dem Austrittsvertrag bedeuten würde, zurückziehen Johnsons Vertraute bemühen sich inzwischen um Schadensbegrenzung und versichern, der Premier sei viel näher an Biden als an Trump, leider hätten die Medien in den letzten Jahren ein falsches Bild gezeichnet.
Allerdings: Dass Johnson wegen des Biden-Sieges nun seine Brexit-Strategie ändere, werde nicht passieren. „Biden macht keinen Unterschied“, heißt es. Aber was soll der Premier auch anderes sagen in der entscheidenden Pokerrunde? Chance für die EU?
EU fordert schnelle Einigung – noch immer erhebliche Differenzen
Unter diesen Vorzeichen reiste EU-Chefunterhändler Michel Barnier und seine Delegation am Sonntagabend mit dem Eurostar-Zug wieder nach London, um in den Gesprächen ab Montag zu versuchen, doch noch einen Durchbruch beim Brexit-Handelsvertrag zu schaffen.
Die Brüsseler Unterhändler fordern eine Einigung bis spätestens zum Wochenende, London sieht die Deadline eher bei Mitte nächster Woche. Die Uhr tickt: Die kommenden Wochen würden gebraucht, um den ausgehandelten Vertrag zu ratifizieren, damit er vor Jahresende in Kraft treten kann.
Ein Telefonat zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Premierminister Boris Johnson brachte allerdings keinen Durchbruch. Bei den Knackpunkten – den von Brüssel verlangten gleichen Wettbewerbsbedingungen in der EU und Großbritannien, Subventionsbeschränkungen, Fischereirechte – gebe es immer noch erhebliche Differenzen, erklärten beide Seiten nach dem Spitzengespräch.
Auf Unionsseite ist klar: Ein Abkommen gibt es um nicht um jeden Preis. Aber auch die Briten pokern hoch: Wenn die EU sich nicht vor allem bei den Fischereirechten bewege, gebe es kein Abkommen, warnte die britische Regierung. Hintergrund: Merkel und Macron warnen Johnson im Brexit-Poker
EU überlegt Plan B für Brexit-Verhandlungen
Die neue Verhandlungsrunde sei die letzte Chance für die Briten, warnte Barnier in einer Runde der EU-Botschafter. Ganz stimmt das allerdings nicht. Ohne Einigung innerhalb dieser Woche gibt es zwar zur Jahreswende keinen Vertrag zwischen Brüssel und London, ein Chaos an den Grenzen stünde bevor. Doch auf EU-Seite wird längst ein Plan B überlegt.
In einem solchen Fall würden beide Seiten nach kurzer Pause einfach weiter verhandeln – mit dem Ziel, wenigstens ein paar Monate später im Frühjahr doch noch einen Deal in Kraft setzen zu können.
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