Brüssel/London. Vermutlich wird der Brexit chaotisch: Die EU und die Briten kommen am Verhandlungstisch nicht weiter. Was heißt das für Großbritannien?
Noch wird verhandelt, aber die Briten rechnen jetzt mit dem Schlimmsten: Auf der Insel laufen fieberhaft die Vorbereitungen für einen harten Brexit zur Jahreswende. Befürchtet werden Versorgungsengpässe, höhere Lebensmittelpreise, Benzinknappheit, womöglich auch ein Krieg französischer und britischer Fischer auf hoher See.
Am Wochenende wurde bekannt, dass die Regierung in London die Handelsketten intern dringend dazu aufgefordert hat, größere Warenvorräte anzulegen, weil in Kürze mit Panikkäufen der Bürger zu rechnen sei.
Verhandlungen über Handelsvertrag bisher ohne Ergebnis
Da die Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der EU noch immer kein Ergebnis gebracht haben, ist die britische Wirtschaft aber ohnehin im Alarmmodus. Wer kann, füllt jetzt die Lager bis zur Decke.
Der Frachtverkehr auf die britische Insel hat stark zugenommen, im französischen Fährhafen Calais liegt die Zahl der Lkw um die Hälfte höher als normal – die Lastwagen stauen sich über viele Kilometer im Hinterland, ebenso wie im britischen Dover.
Ein Vorgeschmack auf das Chaos, was jetzt droht:
Harter Brexit: Tagelange Wartezeiten an EU-Grenze erwartet
Ohne Handelsvertrag würden mit dem Ende der Brexit-Übergangsphase ab 1. Januar Zölle im Warenverkehr zwischen der EU und Großbritannien fällig, so sehen es die Regeln der Welthandelsorganisation WTO verpflichtend vor. Entsprechend aufwendig wären die Grenzkontrollen.
Auf beiden Seiten des Kanals rechnet man mit tagelangen Wartezeiten in Staus von zig Kilometern Länge, der Güterverkehr wäre anfangs wohl gelähmt. Vor allem bei Frischwaren stünden monatelange Engpässe bevor, warnte der britische Handelsverband am Sonntag. Die Milliarden-Mehrkosten durch den Zoll würden auch sicher viele Lebensmittel verteuern, sagte Verbandschefin Helen Dickinson. Fisch hätten die Briten allerdings mehr als genug.
Britische Navy soll Fischer aus Frankreich stoppen
Die britische Regierung rüstet sich bereits zum Fischereikrieg, der droht, wenn sich Brüssel und London nicht auf neue Fangquoten einigen. Vier Patrouillenboote der Navy werden deshalb in Einsatzbereitschaft versetzt, um ab Neujahr EU-Fischerboote am Fischfang in britischen Gewässern zu hindern.
Die mit Maschinengewehren ausgestatteten Marineschiffe sollen die Eindringlinge stoppen und ihre Boote durchsuchen. Die Regierung will damit verhindern, dass es zu gefährlichen Auseinandersetzungen französischer und britischer Fischer kommt wie vor Jahren, als im Streit um Jakobsmuscheln in der Nordsee Steine flogen und Trawler sich gegenseitig rammten.
Johnson und von der Leyen kommen am Telefon zu keinem Durchbruch
Die Mobilisierung der Navy löste am Wochenende heftigen Protest der Opposition aus. Und auch die EU-Seite zeigte sich irritiert. Für die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über einen Handelsvertrag, die auch das Wochenende über weiter gingen, sei das nicht hilfreich, hieß es im Umfeld der EU-Unterhändler.
Als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Boris Johnson am Sonntagmittag telefonierten, erreichten sie wieder keinen Durchbruch. Aber immerhin: Die Verhandlungen sollen weiter gehen.
EU-Diplomaten: Vertrag bis 31. Dezember „unwahrscheinlich“
Von der Leyen sagte, sie habe mit Johnson ein konstruktives Gespräch geführt. „Wir denken, es ist verantwortungsvoll, an diesem Punkt die Extrameile zu gehen“. Johnson klang allerdings wenig später in London skeptischer: Beide Seiten seien in vielen Kernfragen noch „sehr weit auseinander“. Es sei das wahrscheinlichste Ergebnis, dass kein Handelsabkommen zustande komme.
Eine neue Frist wurde erst gar nicht gesetzt – nachdem seit Oktober ein halbes Dutzend Ultimaten gebrochen wurde. Es ist nach Einschätzung von EU-Diplomaten unwahrscheinlich, dass ein Vertrag bis 31. Dezember unter Dach und Fach kommen kann.
Akuter Versorgungsmangel droht Briten nach der Jahreswende
Die EU-Kommission bereitet die Mitgliedstaaten deshalb in vertraulichen Mitteilungen darauf vor, die Verhandlungen trotzdem fortzusetzen. So würde auf einen Vertrag hingearbeitet, der einige Monate später in Kraft treten würde - nach einer holprigen Notstands-Phase Anfang des Jahres. Das könnte auch für Johnson reizvoll sein.
Womöglich wird sein Verhandlungsspielraum größer, wenn die Brexit-Hardliner daheim in London realisieren, was der harte Brexit wirklich bedeutet. Denn die Ermahnung zu Notvorräten der Lebensmittelhändler oder die Mobilisierung der Marine sind ja erst der Anfang. Dieses Vorgehen ist Teil jenes Notfalls-Szenarios, das Regierungsbeamte intern schon im Sommer vorgelegt hatten.
Die Briten ahnen jetzt, dass auch der Rest des Plans bald Wirklichkeit werden könnte: Auf der Insel droht nach der Jahreswende akuter Benzinmangel. Teile des Landes müssten aus der Luft versorgt werden. Und wegen der Versorgungsprobleme fürchtet London Unruhen. Nicht nur gegen französische Fischer würden britische Soldaten vorgehen müssen. Einheiten der Armee sollen auch im Land selbst für Ordnung sorgen.