Brüssel/Berlin. Droht nach dem islamistischen Anschlag von Nizza eine Terrorwelle? Warum man die Warnung vor „Nachahmungstätern“ ernst nehmen muss.

Der Anschlag von Nizza löst europaweit Besorgnis aus. Droht eine neue Terrorwelle? Wie groß ist die Gefahr, die von Nachahmungstätern ausgeht?

Nicht nur in Frankreich – seit Jahren Hauptziel islamistischer Angriffe – hält die Bedrohung an, sondern auch in Deutschland. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte nach einem Treffen der Justizminister in Brüssel, „auch in Deutschland haben wir eine akute und ernste Bedrohungslage durch islamistische Taten.“

Hass im Netz führt zu rechtsextremistischen Taten

Lambrecht und ihre EU-Amtskollegen kündigten eine „entschiedene Antwort Europas auf Hass und Terrorismus“ an: „Uns eint die Solidarität – aber vor allem auch die Entschlossenheit.“

Es geht nicht zuletzt um den Kampf gegen „die Wellen des Hasses im Internet“. Nach einer Hasskampagne in sozialen Medien war der Lehrer Samuel Paty vor einigen Wochen in Paris ermordet worden. Lambrecht mahnte, „auch wir haben an schrecklichen rechtsextremistischen Taten wie dem Mord an Walter Lübcke gesehen, wohin Drohungen und Diffamierungen im Netz führen.“ Sie fügte hinzu, „Hasskriminalität, Terrorpropaganda und Mordaufrufe müssen noch entschiedener und frühzeitiger verfolgt werden.“

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Interpol: 436 Islamisten wegen Terrorverdachts verhaftet

In einer Analyse von Sicherheitsexperten des EU-Rats heißt es, die Gefahr durch den Islamischen Staat und Al-Kaida sowie deren Unterorganisationen sei „nach wie vor hoch“. Nach dem Verlust ihrer syrischen und irakischen Gebiete stützten sie sich zunehmend auf Plattformen im Internet, um Radikalisierung zu fördern und zu Anschlägen anzustiften.

Allein im vergangenen Jahr wurden laut der Polizeibehörde Europol in der EU 436 Islamisten wegen Terrorverdachts verhaftet, die Hälfte davon in Frankreich, 32 in Deutschland. Insgesamt wurden 21 islamistische Terroranschläge in acht EU-Staaten registriert.

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Hauptzielländer der Dschihadisten sind neben Frankreich Spanien, die Niederlande, Belgien, Deutschland, Österreich und Italien. Europol sieht die Täter durch ein loses Netzwerk in Europa verbunden – sie seien eingebettet in ein größeres extremistisches Milieu, das zu terroristischen Aktionen anleite. Zusätzlich hätten sich Einzelne selbst im Internet radikalisiert.

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Das Bundesinnenministerium erklärte am Freitag in Berlin, in Deutschland müsse man „jederzeit mit Anschlägen rechnen“. Die Sicherheitslage sei „unverändert angespannt“. Konkrete Hinweise auf drohende Anschläge gebe es indes nicht, ebenso wenig Hinweise auf einen Deutschlandbezug des Attentäters von Nizza.

So abstrakt die offizielle Lesart klingt – die Gefährdung ist real. Dies habe die Messerattacke am 4. Oktober in Dresden auf „schmerzliche Weise“ vor Augen geführt, hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) in seiner ersten Reaktion auf Nizza gesagt.

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Der „Trend“ geht zu einfachen Tatmitteln

Die islamistische Szene ist seit einem Jahr in Aufruhr, seit dem Tod des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi im Oktober 2019. US-Soldaten hatten ihn damals in Syrien aufgespürt. Danach wurde in radikalislamistischen Kreisen vermehrt zum Terror im Westen aufgerufen.

Allein in Deutschland wurden im November zwei Anschlagsversuche abgewendet. Schon damals hieß es beim Bundeskriminalamt, dass der Trend zu Angriffen mit einfachen Tatmitteln gehe. Schusswaffen spielten bei Anschlagsplanungen hierzulande immer weniger eine Rolle.

Die „Messerstecherei“ von Dresden erwies sich als Terrorismus

Wie zutreffend diese Einschätzung war, zeigte sich ein Jahr später am 4. Oktober, als ein syrischer Flüchtling zwei Passanten auf der Straße erstach. Weil der Täter fliehen und untertauchen konnte und es keine direkten Hinweise auf Terrorismus gab, schaltete sich der Generalbundesanwalt erst ein, als die Fahnder auf einen islamistischen Gefährder gestoßen waren.

Es ist unklar, ob der Attentäter von Nizza von einer Terrororganisation wie zum Beispiel Al-Kaida oder der Islamische Staat (IS) gesteuert wurde oder ob es sich um einen „einsamen Wolf“ handelte. In Frankreich kommt zur ohnehin latent hohen Gefährdung erschwerend die Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen hinzu.

Die Gefahr von Nachahmungstaten

Für Deutschland schätzt das Bundesamt für Verfassungsschutz das islamistische Personenpotenzial auf 28.020. Im Jahr 2019 war es um 5,5 Prozent gestiegen. 2060 Islamisten zählt der Geheimdienst unmittelbar zum terroristischen Milieu – polizeibekannte „Gefährder“, relevante Personen, Häftlinge, IS-Rückkehrer aus Kampfgebieten.

Nach einer Tat wie in Nizza ist die Gefahr von Nachahmungstaten groß. Radikalisierungsräume gibt es auch in Deutschland. Zumeist wird umgehend die Beobachtung von Gefährdern intensiviert, häufig ganz offen, manchmal werden sie sogar angesprochen. Der Sinn solcher Gefährderansprachen, wie es die Ermittler nennen, ist ein Signal: Wir haben euch im Auge.

Der Karlsruher Generalbundesanwalt hat 2019 im Bereich Terrorismus 663 neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, davon rund 60 Prozent aus dem Bereich „islamistisch“. Im ersten Quartal 2020 hat die Behörde 127 Ermittlungsverfahren mit Bezug zum islamistischen Terrorismus eingeleitet, im zweiten Quartal 103.

Fehlen Frühwarnsysteme in den muslimischen Gemeinden

Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle hofft bei der Islamismusbekämpfung auch auf die muslimischen Gemeinden. Sie könnten eine zentrale Rolle spielen. So richtig es sei, Muslime vor Verallgemeinerungen und Verunglimpfungen in Schutz zu nehmen, so klar sei es für ihn, dass „ohne Vorbilder und Frühwarnsysteme in den muslimischen Gemeinden“ die Bekämpfung „nicht gelingen“ könne, sagte er unserer Redaktion.

„Es darf im Internet, in Moscheen oder in Gefängnissen keine Radikalisierungsprozesse geben, die in einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit münden.“ Die Erfahrungen mit türkischen Moscheen sind zumeist positiv, so Fahnder. Schwieriger seien arabische Moscheen.

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