Berlin. Nach dem tödlichen Angriff durch einen islamistischen „Gefährder“ in Dresden stellt sich die Frage, wie viele Zeitbomben noch ticken.
Wenn Abdullah A. H. H. der Mann ist, für den ihn Generalbundesanwalt und Dresdner Polizei halten, war er eine tickende Zeitbombe. Am 29. September, einem Dienstag, verlässt der Syrer die Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen. In Dresden naht das Wochenende, das Fest der deutschen Einheit steht an, die Stadt ist voller Touristen. Am Abend des 4. Oktober läuft der 20-Jährige auf der Schlossstraße im Zentrum zwei Gästen aus Nordrhein-Westfalen über den Weg und sticht nach Überzeugung der Ermittler mit einem Küchenmesser auf sie ein.
Einer überlebt, einer stirbt, dem Vernehmen nach ein Geschäftsmann aus Moers. Als die Polizei die DNA-Spuren am Tatort abgleicht, meldet der Computer einen Treffer: Er überführt Abdullah. Am Dienstag wurde der Mann verhaftet. Das Landeskriminalamt führt ihn schon seit 2017 als islamistischen „Gefährder“.
Abdullah ist 15 Jahre alt, als er nach Deutschland flieht, einer von Tausenden Geflüchteten im Flüchtlingsjahr 2015. Radikalisiert habe er sich hier, vermutet FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Syrer vor, sich seit dem Frühjahr 2016 mit dem Terrornetzwerk „Islamischer Staat“ (IS) und dem Dschihad beschäftigt, radikalisiert und für ihn in mehreren Chat-Beiträgen geworben zu haben.
Haldenwang hatte im Sommer vor neuen Anschlägen gewarnt
Angeblich bemühte er sich um eine Anleitung für ein Attentat, griff Vollstreckungsbeamte an, auch einer Körperverletzung wird er für schuldig befunden. Am Ende steht eine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, die er absitzt. Es ist eine Jugendstrafe, das erklärt das Strafmaß. Noch hat der Rechtsstaat Abdullah nicht abgeschrieben. In seinem Alter besteht die Chance auf Deradikalisierung und Resozialisierung.
Es lohnt sich, das Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden Revue passieren zu lassen. Der Gutachter, ein Islamwissenschaftler aus Berlin, kommt anhand der auf sichergestellten Mobilfunkgeräten gespeicherten Daten (Chats, Videos und Lichtbilder) zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte seit dem Frühsommer 2017 eine dschihadistische Ideologie vertrat, „sich zunehmend dem ‚IS‘ zuwandte und sich schließlich als dessen Anhänger Gedanken um die Ausführung eines Attentats machte“. Mehr noch: „Diesbezüglich äußerte sich der Angeklagte in der Verhandlung insbesondere auch zu einem möglichen von ihm im Sommer 2017 in groben Umrissen angedachten Anschlag in Dresden.“ Lesen Sie auch: Islamistischer Anschlag: 18-Jähriger köpft Lehrer nahe Paris
Verfassungsschutz: Mehr als 28.000 Islamisten in Deutschland
In deutschen Gefängnissen sitzen viele Abdullahs ein, radikalislamistische Häftlinge: Je einer in Bremen und Brandenburg, zwei in Sachsen-Anhalt, drei in Sachsen, vier in Baden-Württemberg, je fünf in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein, sechs in Rheinland-Pfalz, „eine einstellige Zahl“ in Thüringen, im „niedrig zweistelligen Bereich“ in Hessen, in Niedersachsen zwölf, in NRW 17, in Bayern 31. Sie alle verbüßen Haftstrafen, die irgendwann ablaufen, bei guter Führung vorzeitig. Nicht mit eingerechnet sind Untersuchungshäftlinge. „Wegen entsprechender Auffälligkeiten“ werden in Baden-Württemberg außerdem 17 Häftlinge „beobachtet“.
Insgesamt schätzt das Bundesamt für Verfassungsschutz das islamistische Personenpotenzial auf 28.020. 2019 stieg es um 5,5 Prozent. 2060 Islamisten zählt der Geheimdienst zum terroristischen Milieu. Darunter sind polizeibekannte „Gefährder“, relevante Personen, aber auch Islamisten, die der Geheimdienst auf dem Schirm hat. Thomas Haldenwang ist der Behördenchef. Die Anfrage unserer Redaktion erreicht ihn in Quarantäne nach einer Corona-Infizierung. „Die schreckliche Tat in Dresden zeigt, dass vom islamistischen Terrorismus nach wie vor eine große Gefahr in Deutschland ausgeht. Die Sicherheitsbehörden bearbeiten mit vereinten Kräften weiterhin zahlreiche Gefährdungssachverhalte und klären die islamistische Szene konsequent auf.“
Wenn es einen gibt, der nicht überrascht ist, dann Haldenwang. Im Sommer hatte er gesagt, es müsse uns als Gesellschaft in Alarmbereitschaft -versetzen, dass die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung kontinuierlich sinke: „Ich spreche von Islamisten, die ihren Wunsch, ein Massaker in Deutschland zu verüben, längst nicht aufgegeben haben.“ Mehr zum Thema: Zahl von Islamisten in Haft nimmt „kontinuierlich zu“
FDP: „Radikalisierungsräume“ in Deutschland ausleuchten
Natürlich werden Leute wie Abdullah unter Auflagen entlassen. Das heißt aber nicht, dass man ihnen ständig auf den Fersen ist, sie „unter Wind“ nimmt, wie es im Polizeijargon heißt. „Um drei Terrorverdächtige einen Monat rund um die Uhr zu observieren, sind etwa 150 Vollzeitkräfte erforderlich. Wir haben in Deutschland aber nicht nur drei Terrorverdächtige!“, schreibt der frühere Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, in seinem jüngsten Buch.
Die aktiven Behördenchefs zählen selten solche Rechenbeispiele auf – sie reden ungern über ihre Begrenzungen. Allein aus Syrien und dem Irak stuft die Bundesregierung 91 islamistische Rückkehrer als sogenannte Gefährder ein, wie aus einer Auskunft des Bundesinnenministeriums an die AfD-Fraktion im Bundestag hervorgeht. Und weitere 66 Menschen (Stand: 28. September) werden als „relevante Personen“ geführt.
Immer wieder hatten Innenminister wie Joachim Herrmann (CSU) aus Bayern gefordert, Straftäter und Extremisten nach Syrien abzuschieben. Jedes Mal hat die Innenministerkonferenz den Abschiebestopp verlängert. Er könne nicht „Leute dorthin abschieben, wo ein Terrorregime herrscht“, erklärte Mitte Juni der Chef der Innenministerkonferenz, der Thüringer Georg Maier (SPD). „Der generelle Abschiebestopp nach Syrien darf kein Freibrief für gewalttätige und bereits verurteilte Straftäter sein“, sagte Herrmann unserer Redaktion. „Wer in unserem Land schwere Straftaten bis hin zum Mord begeht oder als Gefährder auftritt, kann doch nicht allen Ernstes erwarten, dass er bei uns Hilfe oder Schutz findet.“ Die Regierung, allen voran das Auswärtige Amt, müsste die Voraussetzungen dafür schaffen, solche Rückführungen zu ermöglichen.
Bis dahin ist es für FDP-Mann Kuhle dringlicher, „Radikalisierungsräume“ in Deutschland auszuleuchten. „Es darf im Internet, in Moscheen oder in Gefängnissen keine Radikalisierungsprozesse geben, die in einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit münden“, sagte er unserer Redaktion. Bei der Islamismusbekämpfung spielten auch muslimische Gemeinden eine zentrale Rolle. So richtig es sei, Muslime vor Verallgemeinerungen und Verunglimpfungen in Schutz zu nehmen, so klar sei es für ihn, dass „ohne Vorbilder und Frühwarnsysteme in den muslimischen Gemeinden“ die Bekämpfung „nicht gelingen“ könne.