Berlin. Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der Unionsfraktion, spricht im Interview über den neuen Corona-Lockdown – und den Machtkampf in der CDU.
Die Zahl der Corona-Fälle in Deutschland überschreitet an diesem Wochenende die Schwelle von 500.000 – am Montag wird das öffentliche Leben wieder stark eingeschränkt. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus schließt im Interview nicht aus, dass es vor Weihnachten zu weiteren Verschärfungen kommt.
Einen zweiten Lockdown darf es nicht geben – das war das Mantra der deutschen Politik. Jetzt kommt dieser Lockdown doch. Was ist schiefgelaufen?
Ralph Brinkhaus: Das ist kein Lockdown, wie wir ihn aus Frankreich, Italien und anderen Ländern kennen. Und es gibt auch einen wichtigen Unterschied zum Frühjahr: Die Schulen und Kitas sollen so lange wie möglich offen bleiben, ebenso der Groß- und Einzelhandel. Dass die Vorschriften wieder verschärft werden, hat viele Gründe. Jetzt müssen wir die Infektionswelle brechen, damit wir ein gutes Weihnachtsfest feiern können.
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Willkürlich seien die Maßnahmen, verfassungswidrig. Was antworten Sie den Kritikern?
Brinkhaus: Die Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein, so steht es im Infektionsschutzgesetz. Ich gehe davon aus, dass die Maßnahmen der Länder hinreichend begründet werden, sodass sie einer verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Überprüfung standhalten. Und willkürlich sind die Auflagen auch nicht. Es geht darum, zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung Kontakte zu reduzieren und damit das Infektionsgeschehen einzudämmen. Und wenn wir das wirtschaftliche Leben, Schulen und Kitas ausnehmen, dann bleibt nur noch die Freizeitgestaltung übrig. Es geht leider nicht anders.
Ist die Schließung von Gaststätten, Hotels oder Kinos überhaupt geeignet, um den viel beschworenen Gesundheitsnotstand abzuwenden?
Brinkhaus: Richtig ist, dass man bei einem Großteil der Infektionen gar nicht mehr nachvollziehen kann, wo die Quelle ist. Aber wir können deswegen ja nicht auf Maßnahmen verzichten. Dass dies in einzelnen Fällen zu Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten führt, bedauere ich wirklich sehr. Aber wir müssen angesichts der dramatisch steigenden Infektionszahlen und dem, was auf dem Spiel steht, großflächig ansetzen. Außerdem werden wir die Betroffenen in erheblichem Umfang finanziell unterstützen.
Reichen die staatlichen Hilfen für die Branchen, die besonders unter den neuen Beschränkungen leiden?
Brinkhaus: Für den November sollen zehn Milliarden Euro bereitgestellt werden. Der Bund will damit Betroffenen bis zu 75 Prozent des entgangenen Umsatzes ersetzen. Das ist eine große Hilfe. Damit die Unterstützung wirklich hilft und glaubwürdig ist, wird meine Fraktion darauf achten, dass das Geld zügig fließt.
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Die SPD dringt im Gegenzug auf Steuererhöhungen für Gutverdiener.
Brinkhaus: Wir brauchen jetzt zuerst wieder Wirtschaftswachstum! Dadurch erzielen wir auf lange Sicht auch mehr Steuereinnahmen, sichern Arbeitsplätze und entlasten die Sozialversicherungen. Das schaffen wir nur, wenn wir die geeigneten Rahmenbedingungen für mehr Wachstum schaffen. Und Steuererhöhungen gehören da sicherlich nicht dazu.
Wie will der Staat die Kontaktbeschränkungen überwachen – gerade in privaten Räumen?
Brinkhaus: Ich gehe davon aus, dass die Landespolizeibehörden das mit viel Augenmaß machen werden. Dabei muss insbesondere die Unverletzlichkeit der Wohnung beachtet werden. Aber die Kontrollen werden sicherlich umfassender sein als im Frühjahr - aus gutem Grund.
Können Sie zusagen, dass es vor Weihnachten wieder Lockerungen gibt?
Brinkhaus: Es ist der Plan, dass wir zum Dezember lockern. Garantieren kann das niemand. Fakt ist aber: Ohne etwas zu tun, werden wir sicher keinen guten Dezember haben. Wir müssen kämpfen. Die Kanzlerin hat zu Recht gesagt, dass es vier ungemütliche Monate werden.
Kann es zu weiteren Verschärfungen kommen, zu Ausgangssperren?
Brinkhaus: Die Bundesregierung hat überzeugend erklärt, dass die beschlossenen Maßnahmen zielführend sind. Viel wird davon abhängen, ob alle mitziehen. Dann haben wir eine gute Chance, auf weitere Verschärfungen verzichten zu können. Wenn aber flächendeckend die Leute ihr Ding machen, dann kriegen wir ein Problem.
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Wie viele Lockdowns kann sich Deutschland noch leisten?
Brinkhaus: Es ist nicht unsere Absicht, das auszuprobieren und in Wellenbewegungen durch die Krise zu steuern. Außerdem machen wir rasche Fortschritte im Umgang mit dem Virus: zunehmend bessere Forschungserkenntnisse, bessere und schnellere Tests, neue Behandlungsmöglichkeiten und eine fortschreitende Impfstoffentwicklung. Unser aller Ziel sollte sein, dass wir zuerst schnell in den Zustand kommen, den wir im Sommer hatten. Also notfalls regional runterfahren, aber nicht mehr bundesweit.
Schon im Sommer gab es Massenproteste gegen vergleichsweise geringe Corona-Auflagen. Worauf stellen Sie sich jetzt ein?
Brinkhaus: Viel wird davon abhängen, wie wir die Maßnahmen erklären. Ich sehe in überwiegenden Teilen der Bevölkerung große Vernunft und Verständnis. Zur Wahrheit gehört aber auch: Diejenigen, die dagegen sind, sind sehr laut.
Wäre es nicht die bessere Strategie, Risikogruppen gezielt zu schützen statt die gesamte Bevölkerung einzuschränken?
Brinkhaus: Ich bin sehr vorsichtig bei der Definition von Risikogruppen. Corona kann auch junge Menschen sehr hart treffen. Im Übrigen wissen wir nicht, welche Langzeitfolgen die Erkrankung hat und ob das Virus mutiert. Wir müssen daher Vor- und Nachteile stetig abwägen und für eine Balance sorgen.
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Wie lange dauert es noch, bis genügend Schnelltests im Einsatz sind - und eine wirksame Warn-App?
Brinkhaus: Schnelltest können und werden schon eingesetzt. Ich gehe davon aus, dass wir im Dezember noch weiter sind als heute - vor allem beim wirksamen Schutz von Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Die Corona-App wird auch weiterentwickelt. Im Vergleich zu Apps in anderen Ländern funktioniert sie schon jetzt recht gut.
Der zweite Lockdown ist wie der erste von den Regierungschefs beschlossen worden. Wann holen sich die Parlamente die Kontrolle zurück?
Brinkhaus: Wir haben umfangreiche Debatten über Corona-Maßnahmen im Bundestag geführt …
… aber erst, nachdem die Auflagen beschlossen waren.
Brinkhaus: Es läuft alles im Rahmen der bestehenden Gesetze des Deutschen Bundestages. Die Fraktion steht in ständigem Kontakt mit der Bundesregierung. Die Haltung der Regierungsfraktionen fließt in alle Entscheidungen ein.
Reicht Ihnen das?
Brinkhaus: Besser geht es immer, aber wir stellen die grundlegenden Weichen. Aber es muss nicht im Parlament entschieden werden, ob sich Menschen aus zwei oder drei Haushalten treffen dürfen. Das ist definitiv eine Entscheidung der Exekutive. Und wir leben im Föderalismus. Die Rechtsdurchsetzung liegt in erster Linie bei den Ländern.
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Behindert der Föderalismus eine effektive Corona-Bekämpfung?
Brinkhaus: Es gibt sicher Potenzial nach oben. Ich bin dafür, im Rahmen einer Föderalismusdebatte auch die Bund-Länder-Beziehungen im Krisenfall auf den Prüfstand zu stellen.
Selbst der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder ist neuerdings bereit, Länderkompetenzen an den Bund abzugeben.
Brinkhaus: Ich teile diese Haltung. Ein Landkreis ist kein Maßstab für die Lösung nationaler oder europäischer Katastrophen – ein Bundesland ist es auch nicht. Wir sollten uns die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Licht der Pandemiebewältigung genau anschauen. Wenn es im Interesse der Menschen ist, mehr Zuständigkeiten beim Bund zu verorten, sollten wir diese Aufgabe ohne Scheuklappen angehen. Das föderale System ist 1949 zurechtgeschnitten worden, 2020 leben wir in einer anderen Welt. Wir brauchen eine neue Föderalismusdebatte.
Die CDU, die im Bund und in zehn Ländern regiert, schwebt seit Monaten in einem Führungsvakuum. Wann wird der neue Vorsitzende gewählt?
Brinkhaus: Ich hätte es liebend gerne gehabt, dass der neue Vorsitzende wie geplant im Dezember gewählt worden wäre. Die offene Führungsfrage überlagert unsere Arbeitsleistungen und sorgt für Unruhe. Ich habe mich mit Volker Kauder sehr fair gemessen, als es um den Fraktionsvorsitz ging. Wir haben vermieden, persönlich zu werden. Ich wünsche mir wirklich, dass das auch wieder für den Wettbewerb um den Parteivorsitz gilt.
Friedrich Merz wirft dem CDU-Establishment vor, den Parteitag nicht wegen Corona zu verschieben, sondern um seinen Aufstieg an die Parteispitze zu verhindern.
Brinkhaus: Ich verstehe, dass Friedrich Merz enttäuscht ist. Aber man muss ganz klar sagen: Das Land ist momentan nicht davon bewegt, wer der nächste CDU-Parteivorsitzende wird, sondern davon, wie es mit der Pandemie weitergeht. Ein Parteitag mit 1001 Leuten ist in dieser Lage nicht zu vermitteln. Ich rate zur Deeskalation.
Warum halten Sie den Parteitag nicht einfach digital ab?
Brinkhaus: Wenn sich abzeichnet, dass auch im Januar kein Präsenzparteitag abgehalten werden kann, müssen wir uns tatsächlich über andere Möglichkeiten unterhalten. Allerdings vergessen viele, dass für einen digitalen Parteitag mit Vorstandswahl die rechtliche Basis sehr schwierig ist. Und eine Briefwahl dauert wegen der vielen Wahlgänge quälend lang. Deswegen loten wir im Bundestag gerade aus, was möglich ist und was eventuell geändert werden muss.
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Ist es ausgeschlossen, die CDU-Mitglieder über den neuen Parteichef entscheiden zu lassen?
Brinkhaus: Wir haben uns gegen eine Mitgliederbefragung entschieden. Und selbst wenn: Der Sieger müsste dann auch wieder auf einem Parteitag gewählt werden. Das ist hinreichend kompliziert.
Wann braucht die CDU spätestens einen neuen Parteichef – und die Union einen Kanzlerkandidaten?
Brinkhaus: Es wäre wünschenswert, beide Fragen so schnell wie möglich zu entscheiden. Je länger die Auseinandersetzung dauert, desto schwieriger wird es.
Wie wahrscheinlich ist es, dass CSU-Chef Söder die Union in die Bundestagswahl führt – und der frisch gewählte CDU-Vorsitzende den Kürzeren zieht?
Brinkhaus: Es ist immer der Anspruch der CDU gewesen, den Kanzlerkandidaten zu stellen. Allerdings hat es zwei Ausnahmen gegeben: Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber.
Wie stellen Sie sich Ihre eigene Zukunft vor? Bleiben Sie Fraktionschef, ganz gleich, wer Annegret Kramp-Karrenbauer an der CDU-Spitze nachfolgt? Oder zieht es Sie ins Kabinett?
Brinkhaus: Ich wollte immer Fraktionsvorsitzender werden. Das ist mein Traumjob.
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