Berlin. Über 7300 Neuinfektionen – nie wurden an einem Tag in Deutschland so viele Fälle gemeldet. Doch die Lage ist anders als im Frühjahr.
Es sind bittere Rekordwerte: 6638 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) am Donnerstag, am Freitag stieg die Zahl auf über 7300 Neuinfektionen. Nicht einmal im Frühjahr, als sich das Virus zum ersten Mal in Deutschland ausbreitete, wurden an einem Tag so viele neue Ansteckungen gemeldet. Auch die Zahl der Toten stieg von Donnerstag auf Freitag erneut um 24. Insgesamt sind bislang 9734 Menschen in Deutschland an oder mit dem Virus gestorben.
Hinter den Daten verbirgt sich eine Dynamik im Infektionsgeschehen, die Experten große Sorgen macht: Die Zahl der Fälle, sie steigt nicht nur, sondern auch immer schneller. Längst ist die zweite Welle der Pandemie im Bereich des exponentiellen Wachstums, vor dem Wissenschaftler eindringlich gewarnt hatten.
Merkels Modellrechnung
Noch im September hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht, mit einer Modellrechnung klarzumachen, warum das Infektionsgeschehen gebremst werden muss. Das abschreckende Szenario damals: 19.200 Neuinfektionen pro Tag an Weihnachten. Doch wenn die Kurve nicht abflacht, wird dieser Wert deutlich früher erreicht sein. Lesen Sie auch: Covid-19: Erwartungen an Corona-Warn-App bleiben unerfüllt
Auch am Mittwochabend, nach dem Treffen der Ministerpräsidenten, kam Merkel wieder darauf zu sprechen. Was sie beunruhige, sagte sie, das sei der exponentielle Anstieg. Den müsse man stoppen. „Sonst wird das in kein gutes Ende führen.“
Mehr Tests im Vergleich zum Frühjahr
Doch ist der steile Anstieg der gemeldeten Infektionszahlen tatsächlich so besorgniserregend? Denn im Vergleich zum Frühjahr wird deutlich mehr getestet. Die Zahl der Corona-Tests schwankt seit Mitte August zwischen rund 1,1 Millionen und 1,2 Millionen in der Woche. Ende März, als die Zahl der Neuinfektionen hierzulande auch auf über 6000 geklettert war, lag die Zahl der Tests bei 360.000 – also bei einem Drittel der aktuellen Testzahlen.
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In mehreren Labors gibt es laut RKI aktuell einen Rückstau, einige hätten Lieferschwierigkeiten für Reagenzien angegeben. „Das RKI erreichen in den letzten Wochen zunehmend Berichte von Laboren, die sich stark an den Grenzen ihrer Auslastung befinden“, schreibt das Institut im Lagebericht vom Mittwoch. Der zusätzliche Testbedarf durch Urlauber nach Einführung des Beherbergungsverbots mit der Option zu einer „Freitestung“ habe die Situation weiter verschärft.
Anteil der positiven Tests steigt
Doch allein mit der gestiegenen Zahl der Tests ist der Rekord bei den Neuinfektionen nicht zu erklären: Denn nach Angaben des RKI vom Mittwochabend steigt auch der Anteil der positiven Tests an der Gesamtmenge der Tests: von 0,74 Prozent Ende August auf 2,48 Prozent in der Woche vom 5. bis 11. Oktober.
„Die stete Steigerung der Infektionszahlen, die wir derzeit sehen, ist sehr real“, bestätigt Professor Bernd Salzberger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. „Ich bin noch nicht ganz so beunruhigt wie im Frühjahr, weil weniger Infizierte schwer erkranken“, sagt der Infektiologe. Er sei jedoch überrascht von der schnellen Steigerung. Sorge machen Salzberger vor allem die Infektionszahlen bei den über 60-Jährigen, die derzeit den größten Anstieg zu verzeichnen haben.
Unbedarfte Partys oder Reisen
Lange waren es vor allem junge Menschen, die die Infektionszahlen etwa durch Partys oder Reisen in die Höhe getrieben haben. Viele mögen sich gedacht haben: Die Verläufe bei den Jüngeren sind in den allermeisten Fällen mild, kein Grund zur Sorge.
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Doch Experten warnten schon vor Wochen: Die Ansteckungen werden von den Jungen zu den Alten durchsickern. Irgendwo im Alltag begegne man sich immer. Nun scheinen sich die Befürchtungen zu bewahrheiten, die höheren Altersgruppen ziehen nach. „Ich glaube nicht, dass wir die Situation noch umkehren werden“, sagt Salzberger. Der Infektiologe fürchtet: „Die Lage in Deutschland könnte rasch schlimmer werden.“
Ältere Menschen erkranken häufig schwerer
Schlimmer, weil ältere Menschen häufig schwerer erkranken und eher im Krankenhaus behandelt werden müssen. Also werden wahrscheinlich auch die Krankenhäuser die steigenden Infektionszahlen bald deutlich zu spüren bekommen. „Allein aus dem Geschehen der letzten 14 Tage wird etwas in den Kliniken ankommen“, ist sich Salzberger sicher. Lesen Sie hier: Wahlkampf nach Corona: Trump verspricht Kuss für jeden
Schon jetzt sickere die Situation dort langsam ein. Das lässt sich mit Zahlen belegen. So meldete die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) am Donnerstag 655 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen deutschlandweit, 53 mehr als am Vortag und 150 Fälle mehr im Vergleich zur Vorwoche. Wieder eine Kurve, die nach oben zeigt. Die Hälfte dieser Patienten muss laut Divi beatmet werden.
Kein gutes Vorzeichen
Steigende Patientenzahlen auf Intensivstationen sind kein gutes Vorzeichen, so viel weiß man nach zehn Monaten Pandemie-Erfahrung: Denn steigt die Zahl der Intensivpatienten, wird auch die Zahl der Toten steigen. Bislang sind von rund 18.500 intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten rund 4340 verstorben – fast ein Viertel.
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Immerhin: Das Gesundheitssystem ist derzeit weit davon entfernt zu kollabieren. Der überwiegende Teil der deutschen Kliniken meldet freie Kapazitäten – auch auf den Intensivstationen, nur 88 von 1227 Häusern geben an, ausgelastet zu sein. „Ich denke auch nicht, dass wir wieder in eine Situation wie im Frühjahr kommen werden“, sagt Salzberger.
Rasantes Infektionsgeschehen in Europa
Doch wie ein rasantes Infektionsgeschehen das ändern kann, zeigt sich derzeit in zahlreichen europäischen Nachbarländern. Tschechien, wo die Rate von Neuinfektionen in 14 Tagen im Schnitt zuletzt bei 581,3 Menschen je 100.000 Einwohner lag, will 4000 Krankenhausbetten kaufen.
In Polen hat die Zahl der Neuansteckungen zum ersten Mal die Schwelle von 8000 überschritten, auch in Österreich und der Schweiz sind die Spitzenmarken aus dem Frühjahr übertroffen worden. Großbritannien meldete am Mittwoch fast 20.000 Neuinfektionen. Selbst in Italien, wo die Pandemie lange unter Kontrolle war, steigt die Infektionskurve seit Oktober wieder an.
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