Brüssel/London. Ein Handelsvertrag mit der EU ist nicht in Sicht. Britische Behörden spielen den Notfall durch – die deutsche Wirtschaft schlägt Alarm.

Jetzt könnte es doch noch richtig schlimm werden mit dem Brexit, so beschreibt es ein internes Dossier der britischen Regierung. In den Supermärkten auf der Insel werden zur Jahreswende die Lebensmittel knapp, schon zu Weihnachten kommt es zu Panikkäufen, an den Tankstellen geht der Treibstoff aus, während sich auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Lastwagen an den Grenzübergängen stauen.

Einheiten der Armee müssten in Großbritannien für Ordnung sorgen, die Marine würde derweil in der Nordsee einen Fischereikrieg zu verhindern versuchen, der zwischen Bootsbesatzungen aus Großbritannien und der EU droht. Das düstere „Worst-Case-Szenario“ malt eine jetzt in London durchgesickerte Studie (Einstufung: „sensibel“) des Kabinettsbüros von Premierminister Boris Johnson.

Das Dossier soll die Behörden auf den Fall vorbereiten, dass Ende Dezember für das Vereinigte Königreich die elfmonatige Brexit-Übergangsperiode ausläuft, ohne dass bis dahin ein neuer Handelsvertrag mit der EU ausgehandelt ist.

Wenn gleichzeitig eine zweite Welle von Corona das Land heimsucht, droht demnach eine schwere Wirtschaftskrise. Beides ist nicht nur möglich, sondern zunehmend wahrscheinlich. Erlebt Großbritannien zum Jahresende doch noch die harte Landung, die für den Brexit vorausgesagt wurde, trotz des gültigen Austrittsvertrags?

Brexit: Bei den EU-Verhandlern ist die Stimmung düster

In Brüssel lassen die Londoner Planspiele die Alarmglocken schrillen. Die Studie gilt EU-Diplomaten als weiteres Indiz dafür, dass sich die Briten tatsächlich auf ein Scheitern der Verhandlungen über einen Handelsvertrag einstellen – und womöglich gezielt darauf hinarbeiten, weil sie sich langfristig Vorteile davon versprechen.

Die bisherigen Gespräche über die künftigen Beziehungen haben keine Fortschritte gebracht. EU-Chefunterhändler Michel Barnier äußert sich von Mal zu Mal enttäuschter und frustrierter, zuletzt warnte er, es gehe „rückwärts“, ein Abkommen sei „unwahrscheinlich“. Vor einer neuen Verhandlungsrunde von diesem Montag an in London ist die Stimmung düster.

Für ein Treffen der 27 EU-Botschafter in Brüssel vergangenen Mittwoch wurde der Brexit wieder von der Tagesordnung gestrichen, wegen des Stillstands gab es nichts zu bereden. Die Verärgerung auf EU-Seite ist groß, auch im Team der eigentlich abgebrühten EU-Verhandler.

Zeitdruck ist manchmal nützlich für Verhandlungen, aber diesmal ist er gefährlich: Zu viele Fragen sind offen, Knackpunkte ungeklärt – doch schon in knapp sechs Wochen müsste der Vertrag fertig ausgehandelt sein, damit die EU-Regierungschefs das Abkommen wie geplant beim Gipfel am 15. Oktober absegnen können; anschließend muss er von den Parlamenten ratifiziert werden, um zum Jahresende in Kraft zu treten.

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Deutsche Wirtschaft ist in „großer Sorge“

Die Wirtschaft beiderseits des Ärmelkanals ist alarmiert. Ohne ein Handelsabkommen drohten ab Anfang nächsten Jahres die Einführung von Zöllen, die Unterbrechung von Lieferketten und ein erschwerter Datenaustausch zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, warnt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK).

Es bleibe aber nur noch sehr wenig Zeit, um ein Abkommen auf die Beine zu stellen, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben unserer Redaktion. „Der deutschen Wirtschaft bereitet es große Sorge, dass die Brexit-Verhandlungen über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen noch immer auf der Stelle treten.“

Wansleben betonte, das Ende der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember sei für die Betriebe ohnehin gleichbedeutend mit zusätzlichen wirtschaftlichen Herausforderungen: „Definitiv müssen sich die Unternehmen auf längere Abfertigungszeiten an den Grenzen sowie auf Zollbürokratie und doppelte Zulassungsverfahren für Produkte einstellen“, mahnte er. „Die Verunsicherung bei deutschen Unternehmen ist spürbar – in einer Situation, wo sie ohnehin durch die Corona-Krise gebeutelt sind.“

Merkel- EU muss sich auf Scheitern der Gespräche mit Großbritannien einstellen

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    Scheitert Handelsabkommen, wird es düster

    Die Exporte auf die britischen Inseln seien im ersten Halbjahr 2020 (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) um 23 Prozent zurück gegangen, deutlich stärker als der Corona-bedingte Rückgang um 14 Prozent in die sonstige EU.

    Großbritannien sei nur noch Deutschlands achtwichtigster Handelspartner, vor drei Jahren habe das Land noch auf Rang fünf gestanden, sagte Wansleben. Scheitert aber jetzt auch noch ein Handelsabkommen, wird es düster: Nach den Regeln der Welthandelsorganisation WHO müssten dann umgehend – je nach Produktgruppen unterschiedliche - Zölle für den Handel zwischen Großbritannien und der EU erhoben werden, entsprechende Kontrollen eingeschlossen. Nicht nur viele Handelsfragen, auch die Zusammenarbeit etwa bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus wäre einstweilen ungeklärt.

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    Keine Lösung bei den Knackpunkten in Sicht

    Zwei große Knackpunkte gibt es. Die EU bietet zwar ein umfassendes Handelsabkommen, mit dem die Briten wie gewünscht ohne Zölle und Mengenbegrenzung in den Binnenmarkt exportieren könnten. Dafür verlangt Brüssel aber gleich hohe Umwelt- und Sozialstandards auf dem Kontinent und der Insel und einheitliche Regeln für Subventionen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.

    Dieses „Leving Playing Field“ lehnt London als Eingriff in seine Souveränität barsch ab; es will nicht schlechter behandelt werden als etwa Kanada. Die Fronten sind verhärtet, eine Lösung in dieser Kernfrage nicht in Sicht.

    Wirtschaftlich weniger bedeutend, aber symbolisch ebenso wichtig: Die Briten wollen ihre reichen Fischfanggründe in der Nordsee stärker allein nutzen. Bislang durften dort auch die Boote anderer EU-Staaten unbegrenzt Fisch fangen – solange sie die nationalen Quoten der europäischen Höchstfangmengen einhalten.

    Künftig will London Fangquoten von Jahr zu Jahr festlegen, die EU-Fischer müssten zurückstecken. Ein kniffliger Punkt. Die EU möchte, dass sich möglichst wenig ändert und die Fischgründe weiter nach festgelegten Regeln gemeinsam genutzt werden; schließlich exportieren umgekehrt die Briten einen Großteil des Frischfischs in den EU-Binnenmarkt, den Zugang könnte Brüssel erschweren.

    Boris Johnson aber steht bei den Fischern im Wort, er hat auch im Wahlkampf Ende 2019 versprochen, ihnen „die Kontrolle über unsere Fischereigewässer zurückzuholen“.

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    Deutsche Fischer: Lieber kein Deal als ein schlechter Deal

    Betroffen wäre auch die deutsche Fischerei: Vier der sieben Schiffe der deutschen, hoch effizienten Hochseeflotte sind derzeit regelmäßig in britischen Gewässern unterwegs, die Schwarmfisch-Trawler machen dort erhebliche Teile ihres Fangs.

    „Die EU kann den britischen Forderungen beim Fischerei-Thema nicht nachgeben“, sagte der Sprecher des Hochseefischer-Verbandes, Peter Breckling, unserer Redaktion. Die britische Regierung wolle für ihre Fischexporte weiter unbeschränkten Zugang zum Binnenmarkt, aber gleichzeitig wolle sie den Zugang der EU-Fischer in britische Gewässer einschränken. „Das ist völlig inakzeptabel. Kämen die Briten damit durch, wäre das ein gefährliches Präjudiz auch für andere Bereiche.“

    Breckling betonte, die Fischer warteten dringend auf Fortschritte in den Verhandlungen. „Wir hoffen auf ein Abkommen, um ein Chaos zum Anfang des nächsten Jahres zu vermeiden. Aber klar ist auch: Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal.“

    So sieht es allerdings auch Premierminister Boris Johnson. Er beteuert, mit guter Vorbereitung lasse sich das Chaos nach gescheiterten Verhandlungen vermeiden. Als Verbände der britischen Spediteure am Freitag in einem Brandbrief vor einem Brexit-„Desaster“ zur Jahreswende warnten, wies Johnson die Befürchtungen brüsk zurück: Großbritannien werde sich auch ohne Anschlussabkommen „gewaltig“ entwickeln, versprach der Premier.