Berlin. Die Hartz-IV-Sanktionen sind umstritten. Zum Krisenbeginn wurden in 850 Fällen Familienmitgliedern vollständig die Bezüge gestrichen.
- Die Corona-Krise traf vor allem die schwächeren Einkommensgruppen wie etwa Hartz-IV-Familien
- Erschwerend kam hinzu, dass der Staat Zehntausende Familien sanktioniert hat
- Besonders drastisch: In 850 Fällen wurden die Unterstützung durch den Staat komplett eingestellt
- Mittlerweile leben in jeder dritten der knapp drei Millionen Bedarfsgemeinschaften Kinder
Im März brach die Corona-Pandemie mit voller Wucht über Deutschland herein. Firmen verlagerten nach Möglichkeit ihre Produktion ins Home-Office. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief am 12. März dazu auf, möglichst auf Sozialkontakte zu verzichten. Das öffentliche Leben kam in vielen Bereichen zum Erliegen.
Das hatte auch Folgen für die Bezieher von Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV. Weil die Jobcenter geschlossen hatten, wurden die Sanktionen, die Leistungsempfänger erhalten, wenn sie gegen Auflagen verstoßen, ausgesetzt. Diese Regelung galt von April bis Juli.
Doch unmittelbar vor dieser Regelung wurden noch im März 42.000 Sanktionen gegen Familien ausgesprochen, die in sogenannten Bedarfsgemeinschaften zusammenleben. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt.
Hartz IV: In 850 Fällen wurde die Unterstützung eingestellt
Eine Bedarfsgemeinschaft bezeichnet einen gemeinsamen Haushalt, in dem Personen zusammenleben, von denen mindestens eine Person Hartz IV bezieht. Bei dem Hartz-IV-Bedarf wird dabei auch Einkommen und Vermögen der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft miteinberechnet.
Wie aus den Daten der Bundesregierung hervorgeht, führten die Sanktionen in 850 Bedarfsgemeinschaften dazu, dass mindestens ein Hartz-IV-Bezieher seinen Anspruch auf Leistungen vollständig verlor. Dabei hatte erst im November das Bundesverfassungsgericht sogenannte „Totalsanktionen“ untersagt. Seitdem sind Kürzungen auf 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt. Lesen Sie auch: Verband kritisiert: „Hartz IV schützt nicht vor Armut“
„Aufstocker“ verlieren durch Sanktionen bisweilen Leistungsanspruch
Dass es dennoch in 850 Familien-Bedarfsgemeinschaften zu einer kompletten Leistungskürzung gegen eine Person gekommen ist, begründet das Bundesarbeitsministerium mit den sogenannten „Aufstockern“, die ergänzend zu ihrem Einkommen Grundsicherung beziehen. Eine Sanktion könne dazu führen, dass ein Zahlungsanspruch erlischt.
„So führt beispielsweise bei Leistungsberechtigten der Regelbedarfsstufe 1, deren Leistungsanspruch im SGB II aufgrund von Einkommen bei 100 Euro liegt, eine Minderung in Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs dazu, dass kein Zahlungsanspruch mehr besteht“, teilte eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums unserer Redaktion mit. Lesen Sie auch: Grundeinkommen-Studie: Wie Sie 1200 Euro mehr bekommen
Kinder müssen Einkünfte abgeben
Mittlerweile leben in jeder dritten der knapp drei Millionen Bedarfsgemeinschaften Kinder. Fast jedes zweite Kind unter 18 Jahren in Hartz IV lebt der Antwort der Bundesregierung zufolge mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen.
Wer sich von den Kindern und Jugendlichen neben Kindergeld und Unterhaltszahlungen etwas dazu verdienen möchte, muss unter Umständen damit rechnen, dass Teile der Einnahmen wieder abgegeben werden müssen.
Anstatt der 450 Euro, die sonst in Minijobs steuer- und sozialversicherungsfrei sind, bleiben in der Bedarfsgemeinschaft nur 170 Euro anrechnungsfrei – das gilt auch für Kinder. „Junge Menschen sollten nicht dafür bestraft werden, wenn ihre Eltern auf Hartz IV angewiesen sind“, ärgert sich Sven Lehmann, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Junge Menschen müssten die Erfahrung machen, dass sich Arbeit lohnt, meint Lehmann, der zugleich Landesvorsitzender der Grünen in Nordrhein-Westfalen ist. Lesen Sie auch: Regierung erhöht Hartz IV: Das sind die neuen Sätze
109.000 Kinder und Jugendliche übten dennoch einen Job aus
Insgesamt belief sich das Einkommen von Kindern und jungen Erwachsenen in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften den Daten der Bundesregierung zufolge auf 6,46 Milliarden Euro.
- Der Großteil davon entfiel auf Zahlungen des Kindergeldes mit 4,5 Milliarden Euro sowie auf Einkommen aus Unterhaltszahlungen mit rund 1,05 Milliarden Euro.
- Aus Sozialleistungen gingen 72,5 Millionen Euro bei den Kindern und Jugendlichen ein.
- Auch wenn in Bedarfsgemeinschaften Teile des Einkommens abgegeben werden müssen, so gingen dennoch im vergangenen Jahr 109.000 Leistungsberechtigte unter 25 Jahren einem Job nach.
- Sie erzielten in Summe dabei ein Erwerbseinkommen in Höhe von rund 576 Millionen Euro – von dem sie aber wieder Teile abgeben mussten.
„Wie soll man jungen Erwachsenen erklären, dass ihnen maximal 300 Euro aus einem Nebenjob anrechnungsfrei bleiben? Während Gleichaltrige den Nettobetrag im Portemonnaie haben, den sie sich erarbeitet haben, müssen rund 109.000 junge Erwachsene im SGB-II-Bezug Abzüge hinnehmen, weil das erzielte Einkommen auf die Grundsicherung angerechnet und der Leistungsanspruch gemindert wird“, sagt Lehmann, der die Kleine Anfrage zusammen mit Fraktionskollegen der Grünen eingereicht hat. Auch interessant: Hartz IV: Neu beschlossener Regelsatz sorgt für Kritik
Grüne wollen Bedarfsgemeinschaften auflösen
Er forderte, dass die Bedarfsgemeinschaften aufgelöst werden sollen. Unter 25-Jährige sollten zudem das, was sie in der Ausbildung oder in Nebenjobs verdienen, vollständig behalten dürfen. Zudem forderte Lehmann die Einführung einer Kindergrundsicherung. In der Krise hatten Grüne und Linke bereits einen „Corona-Aufschlag“ für Hartz-IV-Empfänger gefordert.
„Wir können es uns nicht länger leisten, dass mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut aufwächst und sich das Ausmaß der Kinderarmut angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise zu verschärfen droht“, sagte Lehmann. Lesen Sie auch: Kindergeld und Co. können Eltern bald online beantragen
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