Frankfurt a.M. Dürfen Jobcenter Leistungen für Arbeitslose unter das Existenzminimum kürzen? Dazu hat das Verfassungsgericht nun ein Urteil gefällt.
Verletzen pauschale Sanktionen, bei denen die Jobcenter Hartz-IV-Empfängern die Bezüge kürzen und so das Existenzminimum weiter reduzieren, die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde? Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Dienstag solche Sanktionen für teilweise verfassungswidrig erklärt (AZ: 1 BvL 7/16).
Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind insbesondere die Kürzungen um 60 Prozent oder mehr, wie Vizegerichtspräsident Stephan Harbarth sagte. Um 30 Prozent dürfen die Leistungen weiter gekürzt werden. Auch diese Minderungen müssen aber in der Ausgestaltung abgemildert werden.
Nach dem Urteil stellt sich nun die Frage nach Reformen des Hartz-Systems. Erste Forderungen kamen bereits kurz nach dem Urteil vom Grünen-Chef Robert Habeck. „Ich halte es für richtig, jetzt das System vom Kopf auf die Füße zu stellen“, sagte Habeck unserer Redaktion.
Hartz-IV-Sanktionen teilweise verfassungswidrig: Das fordern die Grünen jetzt
„Wir sollten eine Garantiesicherung einführen, die auf Anreiz, Ermutigung und individuelle Unterstützung setzt. Menschen, die sich weiterbilden oder qualifizieren, sollten Leistungsprämien bekommen.“ Zudem verlangte der Grünen-Chef, die Zuverdienstgrenzen auf mindestens 30 Prozent zu erhöhen.
„Während Spitzenverdiener in Deutschland höchstens 45 Prozent ihres Einkommens versteuern müssen, müssen die Menschen, die am wenigsten verdienen, 80 Prozent und mehr ihres hartverdienten Einkommens abgeben – nämlich die Bezieher des Arbeitslosengeldes, die zusätzlich arbeiten“, kritisierte er.
Bislang war es so, dass Hartz-IV-Bezieher, die unentschuldigt einem Termin im Jobcenter fernbleiben, zu wenig Bewerbungen schreiben oder eine Weiterbildung abbrechen, von der Arbeitslosen-Behörde mit harten Strafen belegt werden. Das Jobcenter kann das Arbeitslosengeld II bei solchen Verstößen um 10 oder 30 Prozent kürzen. Bei wiederholten Verfehlungen kann die Leistung um 60 Prozent oder sogar ganz gestrichen werden.
Hartz-IV-Sanktionen bei unter 25-Jährigen besonders scharf
Für unter 25-Jährige sind die Sanktionen besonders scharf. Bei ihnen wird bereits beim ersten Pflichtverstoß die Regelleistung (monatlich 424 Euro für einen Alleinstehenden) vollständig gekürzt, bei wiederholten Pflichtverstößen werden auch die Unterkunftskosten nicht mehr übernommen.
In dem aktuellen Verfahren ging es allerdings nicht um kleinere Verfehlungen wie einen verpassten Termin beim Amt, die mit einer zehnprozentigen Kürzung geahndet werden. Überprüft wurden auch nicht die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren.
Sozialverbände kritisieren seit Jahren die Strafen. Von dem Grundsatzurteil sind nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 5,4 Millionen Menschen im Hartz-IV-Bezug betroffen, darunter rund 1,9 Millionen Personen unter 18 Jahren. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen die Jobcenter Arbeitslose „fördern und fordern“ und sie möglichst schnell wieder in Lohn und Brot bringen.
Doch mitunter kommen die Betroffenen den Vorgaben der Behörde nicht nach. In diesen Fällen setzt das Jobcenter die Förderung herab.
Hartz-IV-Sanktionen: Sozialgericht hält Maßnahmen für verfassungswidrig
Im Jahr 2018 wurden laut Bundesagentur für Arbeit insgesamt 441.000 Hartz-IV-Bezieher mindestens einmal bestraft. In drei Viertel aller Fälle wurden Betroffene sanktioniert, weil sie unentschuldigt Meldetermine verpasst haben.
Bei einer Hartz-IV-Kürzung von 60 oder mehr Prozent werde nicht mehr das zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum gesichert, urteilte das Sozialgericht Gotha bereits im Jahr 2015 (AZ: S 15 AS 5157/14). Die Sozialrichter hielten das Sanktionssystem für verfassungswidrig und legten den Rechtsstreit dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.
In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar dieses Jahres in Karlsruhe sagte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, dass die Zulässigkeit der Sanktionen insgesamt auf dem Prüfstand stehe. Es gehe darum, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele geeignet und zumutbar für die Betroffenen seien, und nicht, ob das Sanktionssystem politisch sinnvoll sei.
Sozialminister Hubertus Heil verteidigt das Sanktionssystem
Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) verteidigte vor Gericht das Sanktionssystem. Der Sozialstaat müsse Mittel haben, die Mitwirkung der Leistungsbezieher einzufordern. „Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen sich anstrengen. Sonst wäre das ein bedingungsloses Grundeinkommen“, sagte Heil. Das wolle er nicht.
Susanne Böhme, Anwältin des vom Jobcenter bestraften Klägers, argumentierte, dass starre Sanktionen für drei Monate keine Verhaltensänderung beim Leistungsbezieher bewirken. „Sanktionen treffen in der Praxis häufig Menschen, die sich nicht ausdrücken können, und nicht diejenigen, die sich drücken“, mahnte Friederike Mussgnug von der Diakonie.
Überforderung, Krankheit, Depression, familiäre Konflikte oder Verständnisprobleme seien oft die eigentlichen Ursachen für sogenannte Pflichtverstöße beim Hartz-IV-Bezug.
Die Front der Sanktionsbefürworter scheint zu bröckeln. So hatte im April 2019 der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, Änderungen zumindest bei den schärferen Sanktionen gegen Jugendliche verlangt.
Mit Blick auf eine mögliche Streichung der Unterkunftskosten durch das Jobcenter sagte Scheele: „Drohende Wohnungslosigkeit hilft uns nicht weiter. Wir verlieren die jungen Menschen dann aus den Augen und können uns nicht mehr kümmern.“
Immer wieder haben in den vergangenen Monaten mehrere Gerichtsurteile zu Hartz-IV für Schlagzeilen gesorgt – so wie auch Ermittlungen von Polizei und anderen Behörden. Einem Clan wurde zum Beispiel Hartz-IV-Betrug vorgeworfen, die Polizei beschlagnahmte einen Luxus-Mercedes. In einem Anderen Fall wollte ein Jobcenter von einem Hartz-IV-Bezieher 74.000 Euro – ein Gericht kippte das Urteil. (mbr/jkali/dpa)