Bochum. Wie wirkt sich die Flüchtlingskrise auf die Kriminalität aus? Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum liefert dazu nun erste Antworten.
Vor fast genau fünf Jahren sagte Angela Merkel: „Wir schaffen das.“ Die Flüchtlingskrise spaltete das Land in Helfer und Gegner: Für die einen war Merkels Credo eine Kampfansage, für andere eine Aufforderung. Die gefühlte Bedrohung und die Angst vor Überfremdung wuchsen.
Ein Team von Kriminologen wollte es genauer wissen und nahm die Kriminalitätsentwicklung seit der Flüchtlingskrise 2015 unter die Lupe und verglich diese Daten mit den Aussagen der Bevölkerung. Christopher Onkelbach sprach mit dem Kriminologen Prof. Thomas Feltes, Seniorprofessor an der juristischen Fakultät der Ruhr-Uni Bochum, einer der Studienautoren.
Was ist das Ziel des Projekts?
Thomas Feltes: Es ging darum, mehr Klarheit über die Kriminalität durch und gegen Geflüchtete in NRW zu erhalten. Die Studie analysierte Ausmaß und Art der registrierten Kriminalität und eigenen Opfererfahrungen von Geflüchteten auf der Flucht, in Deutschland und in NRW. Die Befunde werden in einen Zusammenhang mit dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Bevölkerung gestellt.
Wie hat sich die Kriminalität seit 2015 verändert?
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Die polizeilich registrierte Kriminalität in NRW ist seit 2015 beständig rückläufig und 2019 auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren gewesen. Vor allem bei schweren Delikten haben wir einen deutlichen Rückgang zu verzeichnen. Allerdings erfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) nur einen Teil der begangenen Straftaten. Da aber das Anzeigeverhalten in den vergangenen Jahren beständig zugenommen hat, ist der tatsächliche Rückgang statistisch noch viel größer.
Prekäre Unterbringung begünstigt Straftaten wie Körperverletzung
Wie entwickelte sich die Kriminalität von Ausländern?
Die Kriminalität von Nichtdeutschen ist bundesweit und auch in NRW bis 2016 angestiegen, danach aber deutlich zurückgegangen. Allerdings lassen die Daten keine Aussagen über die tatsächliche Kriminalität von Nichtdeutschen zu. Zum einen fehlt die Vergleichsgrundlage, um die tatsächliche Kriminalitätsbelastung von Deutschen und Nichtdeutschen zu vergleichen. Hinzu kommt, dass der Anstieg der Kriminalität, den wir zwischen 2015 und 2016 zu verzeichnen hatten, neben dem „Schwarzfahren“ vor allem auf ausländerspezifische Verstöße wie unerlaubte Einreise, illegaler Aufenthalt sowie Urkundenfälschungen zurückzuführen war. Zwar weist die PKS eine höhere Belastung ausländischer Tatverdächtiger aus, allerdings werden dabei zentrale Faktoren nicht berücksichtigt.
Welche Faktoren sind das?
Man muss man bei einem Vergleich zwischen der ausländischen und deutschen Wohnbevölkerung die unterschiedliche strukturelle Zusammensetzung berücksichtigen. Männer, vor allem junge, werden generell häufiger straffällig als Frauen, und diese sind unter Geflüchteten deutlich überrepräsentiert. Vor allem aber spielt die Sozialstruktur – Bildung, Chancen auf dem Arbeitsmarkt, prekäre Lebensbedingungen - eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt: Nichtdeutsche wohnen überwiegend in Ballungszentren, in denen die Kriminalitätsbelastung höher ist. Berücksichtigt man alle diese Faktoren, dann verschwindet der statistische Unterschied bei der Kriminalitätsbelastung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen fast völlig.
Was wissen Sie über Kriminalität von Geflüchteten in NRW?
Die von uns durchgeführte Analyse der polizeilichen Daten zeigt, dass die Mehrzahl der Delikte von Geflüchteten einfacher Diebstahl, Vermögens- oder Fälschungsdelikte waren. Ladendiebstahl, Beförderungserschleichung sowie Urkundenfälschung wurden am häufigsten registriert. Im Bereich Unterkunft wurden vermehrt Körperverletzungsdelikte registriert, wobei in knapp der Hälfte der Fälle die gleiche Staatsangehörigkeit beim Opfer wie bei den Tatverdächtigen vorlag. Erklärungsansätze liefert die unsichere und prekäre Lebens- und beengte Unterbringungssituation.
„Nationalität spielt bei Kriminalität eine deutlich geringere Rolle als angenommen“
Welche Rolle spielen Religion und Nationalität bei der Kriminalität von Ausländern?
In jedem Fall eine deutlich geringere als oftmals angenommen wird. Straffälligkeit ist keine Frage des Passes oder der Nationalität, sondern der sozialen Herkunft.
Wie entwickelten sich die Straftaten gegenüber Ausländern?
Nichtdeutsche werden häufiger Opfer von Straftaten: Sie machen fast 23 Prozent der Opfer aus, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur zwölf Prozent beträgt. Dies gilt besonders für Gewaltkriminalität. Betrachtet man die fremdenfeindlichen Straftaten, so haben wir hier seit einiger Zeit einen deutlichen Anstieg. In unserer Studie konnten wir feststellen, dass viele Straftaten gegen Geflüchtete von diesen nicht angezeigt werden.
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Subjektives Sicherheitsgefühl und objektive Kriminalitätsbelastung klaffen auseinander
Wie korrespondieren die polizeilichen Daten mit dem Sicherheitsempfinden der Menschen?
In der von uns 2015/16 durchgeführten Befragung von Bochumer Bürgern konnten wir feststellen, dass das subjektive Sicherheitsgefühl und die objektive Kriminalitätsbelastung deutlich auseinanderklaffen. Die Bürger neigen dazu, das Ausmaß der Kriminalität und das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, deutlich zu überschätzen. So waren über 90 Prozent der Befragten der Auffassung, dass Diebstahl und Einbruch zugenommen haben, rund 80 Prozent glauben dies im Hinblick auf Raub- und Körperverletzungsdelikte. Tatsächlich aber war bei Raubtaten ein Rückgang zu verzeichnen, sogar um 15 Prozent.
Was erzählten die Bürger bei den Befragungen?
Viele äußerten Verständnis für die Geflüchteten aus Kriegsgebieten. Auffällig waren die unterschiedlichen Meinungen zur öffentlichen Kriminalitätsberichterstattung. Sie reichten von dem Glauben, dass die Polizei die Statistiken manipuliert bis zur Willkür der veröffentlichten Fälle und den darin enthaltenen Informationen, wie etwa der Staatsangehörigkeit bei Tatverdächtigen.