Hamm. . Schwarzfahren ist eine Straftat. Aber immer mehr Politiker fordern, das Delikt zu entkriminalisieren und als Ordnungswidrigkeit zu ahnden.

Der Bahnhof in Hamm vor wenigen Tagen: Die Bundespolizei hält morgens um halb zehn auf einem Bahnsteig einen 75-jährigen Mann fest. Er ist auf der Durchreise. Sein Ziel: Hannover. Acht Staatsanwaltschaften haben ihn gesucht, drei haben ihn zur Festnahme ausgeschrieben.

Ist den Behörden ein dicker Fisch ins Netz gegangen? Der alte Herr ist schwarzgefahren. Elfmal wurde er erwischt. Für das „Erschleichen von Dienstleistungen“ soll er 1700 Euro bezahlen. Geld, das er nicht hat. Die Konsequenz: 110 Tage Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt in Hamm.

75-Jähriger fuhr ohne Ticket und sitzt im Gefängnis

Der 75-Jährige hat der Bundespolizei zufolge viele Bezugspunkte, aber keinen festen Wohnsitz mehr. „Er war in keinem verwahrlosten Zustand. Dass jemand so oft reist, deutet vielleicht auf eine schwierige Familiengeschichte hin“, mutmaßt Sprecher Jürgen Gerdes. Der Mann habe sich widerstandslos festnehmen lassen und seine Haftstrafe umgehend angetreten.

„Das ist ein sehr ärgerlicher Fall“, findet Rechtsanwalt Jens Jeromin, Verkehrsrechtler aus Dortmund. „Dass jemand wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis muss, sorgt immer wieder für Diskussionen.“ Auch in diesem Fall dauert es nur wenige Stunden, bis erste Kritik an der Festnahme folgt: „Das Strafrecht in Sachen Schwarzfahren ist absurd“, sagt Stefan Engstfeld, Rechtsexperte der Grünen im Landtag NRW.

Justiz: Es trifft häufig die Falschen

Auch Peter Biesenbach (CDU), Justizminister in Nordrhein-Westfalen, ist der Ansicht, dass der 75-Jährige nicht ins Gefängnis sollte. Er will Schwarzfahren „entkriminalisieren“. „Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft häufig die Falschen und belastet den Justizhaushalt erheblich“, sagt sein Sprecher Dirk Reuter.

Zahlen bestätigen diese Einschätzung. Der 110-tägige Arrest des 75-Jährigen kostet den Steuerzahler nach Engstfelds Berechnungen 14.000 Euro. Zurzeit sitzen 1120 Menschen in NRW mit einer Ersatzfreiheitsstrafe ein, ein Großteil davon wegen Schwarzfahrens. Laut einer Erhebung des ARD-Magazins „Monitor“ kommen dadurch 56 Millionen Euro im Jahr zusammen. Deshalb fordert die Opposition im Landtag, dass diese Form des Erschleichens einer Dienstleistung künftig nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit gewertet werden soll.

Eine Gesetzesänderung wollen allerdings die Verkehrsbetriebe im Revier nicht. Eine Entkriminalisierung sei der falsche Weg. „Das ist mit Sicherheit kein Kavaliersdelikt“, sagt Juan José Castrillo, Geschäftsführer des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR). „Die abschreckende Wirkung einer Gefängnisstrafe wäre dahin“, bemängelt Uwe Bonan, Chef der Ruhrbahn (Essen/Mülheim). Oliver Wolff vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hält „solche rein politischen Aussagen“ für „absolut kontraproduktiv“.

VRR: Kein Kavaliersdelikt

Ein Lösungsvorschlag: Anwalt Jens Jeromin plädiert für ein günstiges Sozialticket, ohne Beschränkung auf bestimmte Gültigkeitsbereiche. Im VRR gibt es zwar das Sozialticket in der Preisstufe A in kreisfreien Städten für 37,80 Euro. „Die Anzahl der Schwarzfahrten ginge aber noch einmal deutlich zurück, wenn dieses Ticket flächendeckend eingeführt wird“, so der Verkehrsrechtler. „37,80 Euro sind sehr viel Geld für einen Hartz-IV-Bezieher, der damit nicht in eine andere Stadt fahren kann.“ Hartz-IV sieht nur 26 Euro im Monat für Mobilität vor.

Kurzfristig setzt das Justizministerium auf eine andere Taktik: Betroffene sollen die Möglichkeiten bekommen, ihre Strafe in kleinen Beträgen oder zeitverzögert abzuzahlen. Damit es zu keinen weiteren Ersatzfreiheitsstrafen kommt. Dem 75-Jährigen im Gefängnis in Hamm hilft das noch nicht weiter.