Essen. Politik und Ermittler erneuern ihre Forderung nach einer Vorratsdatenspeicherung. Der Journalist Markus Beckedahl warnt vor diesem Werkzeug.

Das Ausmaß des Falls ist gigantisch: 30.000 Spuren zu möglichen Tatverdächtigen soll es im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach geben, wie NRW-Justizminister Peter Biesenbach am Montag mitteilte. Sowohl Biesenbach als auch NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) fordern die Möglichkeiten der Vorratsdatenspeicherung auszuweiten. In das gleiche Horn stößt auch der Chef der Gewerkschaft der Polizei NRW, Michael Mertens. Im Gespräch mit dieser Redaktion sagte er: „Die Frage ist: Steht der Datenschutz über dem Kinderschutz, oder ist er sogar Täterschutz? Wir müssen offen über dieses Thema sprechen.“

Markus Beckedahl verfolgt die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren. Der 43-jährige Journalist ist Chefredakteur des Portals netzpolitik.org, das sich kritisch mit digitalen Themen auseinandersetzt.

Sie argumentieren inzwischen seit über zehn Jahren gegen die Vorratsdatenspeicherung – werden Sie langsam müde?

Markus Beckedahl: Es sind 17 Jahre (lacht). Müde werde ich nicht. Ich halte die Vorratsdatenspeicherung für eine rote Linie, die der Staat überschreitet, indem die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt wird.

Welche Daten werden erhoben?

Es handelt sich dabei um Verbindungsdaten, zum Beispiel: Wer telefoniert mit wem und wo? Das klingt erstmal harmlos, aber Handys melden etwa alle zwei Minuten an den Telekommunikationsanbieter, in welcher Funkzelle sie sich befinden. Auf dem Land mit schlechterer Mobilfunkabdeckung umfasst so eine Funkzelle vielleicht ein Dorf, in der Stadt kann es ein Block sein. Die Daten geben tiefe Einblicke in das Leben großer Teile der Bevölkerung und erlauben Rückschlüsse: Mit wem hat sich die Person getroffen? Aus den gesammelten Daten ließen sich auch Vorhersagen machen, wo sich eine Person morgen wahrscheinlich aufhalten wird.

Markus Beckedahl ist Chefredakteur der Plattform netzpolitik.org und beobachtet die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren.
Markus Beckedahl ist Chefredakteur der Plattform netzpolitik.org und beobachtet die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren. © Netzpolitik.org | Darja Preuss

Was erhoffen sich Politik und Ermittler davon?

Das wären super Daten für Ermittlungsbehörden – aber wir hängen ja auch keine Kameras in Privatwohnungen. Für die Vorratsdatenspeicherung werden oft falsche Vergleiche gezogen wie eine Pkw-Abfrage. Diese Daten wären im analogen Leben aber eher vergleichbar mit: Wen habe ich beim Einkaufen, im Café oder im Wald getroffen? Mit wem habe ich am Gartenzaun gestanden und gesprochen? Im digitalen Raum spüren wir das nicht. Befürworter der Vorratsdatenspeicherung würden bei derartigen Eingriffen in der analogen Welt aber vermutlich eine Revolution starten. Ich kann nachvollziehen, dass Ermittler diese Daten haben möchten, halte es aber nicht für das richtige Instrument.

Welche Möglichkeiten haben Ermittler jetzt schon?

Bei Fällen von Hasskriminalität braucht es in der Regel nur einen Blick auf den Namen des Nutzers oder in das Impressum der Website. (lacht) Da wird die Vorratsdatenspeicherung überhaupt nicht benötigt. Diese gilt immer als Wunderwerkzeug. Dafür gibt es bislang aber keine Belege.
Insgesamt haben Ermittler aber bereits jetzt viele Möglichkeiten. Beim Thema Kindesmissbrauch sprechen wir über tragische und schreckliche Taten. Unterfinanzierte Sozialbehörden haben die Situation der Kinder nicht erkannt. Wir brauchen außerdem mehr gut ausgebildete Spezialkräfte bei der Polizei, um die bereits vorhandenen Datenmengen auswerten zu können.
Ein neues Werkzeug ist das Herstellen von Deepfakes, künstlich hergestelltem kinderpornografischen Material. Damit können sich Ermittler Zutritt zu solchen Seiten verschaffen, die das von ihren Neumitgliedern erwarten. Dieses Werkzeug gibt es seit Anfang des Jahres, man konnte noch nicht evaluieren, ob das ein erfolgreiches Mittel ist.

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Wie effektiv ist die Vorratsdatenspeicherung im Kampf gegen Kinderpornografie – Stichwort IP-Verschlüsselung?

Die, die richtig kriminell sind, nutzen eine IP-Verschlüsselung. Der Volksmund würde sagen, alle die ihre IP-Adresse verschlüsseln, sind kriminell. Ich bin Journalist und sichere meine Verbindung auch, um zum Beispiel meine Quellen zu schützen. Server, auf denen kinderpornografische Inhalte liegen, werden in der Regel so konfiguriert, dass diese die Verbindungsdaten und IP-Adressen der Benutzer gar nicht erst erfassen. Damit schützen Betreiber dieser Seiten auch die etwas unbedarfteren Besucher.

Befürworter wie der sächsische CDU-Innenminister Roland Wöller sagen, man dürfe „Datenschutz nicht über das Kindeswohl stellen“.

Das ist in einem Rechtsstaat immer eine Abwägung von Grundrechten. Er sollte sich vielleicht das Grundgesetz noch einmal anschauen. Man argumentiert ja auch nicht damit, dass das Folterverbot nicht über dem Kindeswohl stehen dürfe. Ich halte die immer neue Forderung der Innenminister für eine Taktik, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Wenn Ermittlungsbehörden Monate brauchen, um ein Handy auszuwerten, dann ist das nicht das Problem einer fehlenden Vorratsdatenspeicherung. Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht in diesem Jahr sich wieder zur Vorratsdatenspeicherung äußern. In der aktuellen Forderung sehe ich ein Framing der Innenminister in Richtung des BVerfG: „Dieses Instrument brauchen wir, sonst könnten wir nicht mehr gegen Missbrauch ermitteln.“ Ursprünglich wurde mit der Terrorbekämpfung argumentiert.

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Sind unsere Daten nicht sowieso schon bei Google, Facebook und Co.?

Ich halte es für falsch, dass Google und Facebook so viele Daten speichern. Bei diesen Anbietern sind aber ja nicht alle. Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich jedoch um eine Verpflichtung.

Das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren würde voraussetzen, dass es einen Anlass für die Speicherung gebe. Wäre das ein Kompromiss, mit dem Sie als Datenschützer leben könnten?

Es kommt auf die Ausgestaltung an. Bei einer Quick-Freeze-Lösung würden nicht pauschal die Daten aller Bürger gesammelt. Ein Richter müsste erst zustimmen, bevor die Daten von einem Verdächtigen gespeichert werden dürfen. Es wäre im Vergleich zur Vorratsdatenspeicherung wohl das kleinere Übel, mit dem viele Datenschützer leben könnten.

Kurz erklärt: Vorratsdatenspeicherung

Die Vorratsdatenspeicherung geht auf eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 zurück. Darin hieß es, dass die Mitgliedsstaaten Gesetze erlassen sollen, die ihnen den Zugriff auf Verkehrs- und Standortdaten der Nutzer von Telekommunikation erlaubt. Der Zweck war laut Richtlinie die „Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten“. Der Inhalt von Gesprächen oder verschickten Nachrichten gehört nicht dazu.

Die wichtigsten Eckpunkte: Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 1. Januar 2008 ein entsprechendes Gesetz (externer Link). Das Bundesverfassungsgericht urteilte im März 2010, dass das Gesetz in dieser Form nicht mit Artikel 10 (Brief- und Fernmeldegeheimnis) des Grundgesetzes vereinbar ist.

Der Europäische Gerichtshof urteilte im April 2014, dass die EU-Richtlinie in der Form von 2006 ungültig ist. Eine Datenspeicherung sei nur unter strengen Auflagen zulässig. Zu einem ähnlichen Urteil kam der EuGH im Dezember 2016.

Lesetipp: Vorratsdatenspeicherung auf der Internetseite des Bundesbeauftragten für Datenschutz