Essen. Markus Hartmann leitet die Ermittlungen im Fall Bergisch-Gladbach. Er sagt: In Chats werden Teilnehmer ermutigt, Taten zu begehen.

Bei ihren monatelangen Untersuchungen im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach sind Ermittler auf Spuren von potenziell 30.000 Tatverdächtigen gestoßen. Es geht um Kindesmissbrauch und im Netz geteilte Kinderpornografie, in Chats heizen sich Unbekannte unter Nicknames zu Taten an. Oberstaatsanwalt Markus Hartmann ist Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) NRW, die dieses Verfahren führt. Der 47-Jährige spricht mit Stephanie Weltmann über die Täter im Netz.

Herr Hartmann, Sie verfolgen im Kindesmissbrauchsfall Bergisch Gladbach 30.000 Spuren, die zu bis zu 30.000 Tätern führen könnten. Hat Sie das Ausmaß dieses Falls überrascht?

Markus Hartmann: Das kann man rückhaltlos sagen, ja. Und das gilt nicht nur für die schiere Anzahl der Spuren. Wir haben Kommunikationen in Chatgruppen aufgedeckt, an denen mehrere Tausend Menschen beteiligt waren. Uns alle hat überrascht, mit welcher Offenheit in diesen Chats über Kindesmissbrauch diskutiert wird. Es entsteht der Eindruck, dass die Beteiligten Kindesmissbrauch als akzeptierte sexuelle Präferenz ansehen.

Also nicht als etwas Strafbares?

Genau. Es werden regelrecht Ratschläge ausgetauscht, Tipps, wie man Kinder besonders gefügig machen kann. Beteiligte werden dazu ermutigt, Missbrauch zu begehen. Diese Art der Kommunikation haben wir nicht erwartet.

Oberstaatsanwalt Markus Hartmann leitet die Ermittlungen im Missbrauchsfall Bergisch-Gladbach. Er warnt, die Anonymität des Internets ermögliche manche Tat erst.
Oberstaatsanwalt Markus Hartmann leitet die Ermittlungen im Missbrauchsfall Bergisch-Gladbach. Er warnt, die Anonymität des Internets ermögliche manche Tat erst. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Welche Rolle spielen soziale Netzwerke beim Kindesmissbrauch?

Kommunikation im Netz hat insgesamt einen wichtigen Anteil bei der Begehung von Kindesmissbrauchs-taten, bei der Verbreitung und dem Besitz von entsprechendem Material. Solche Gesprächsgruppen bilden außerdem einen ganz entscheidenden Resonanzraum. Menschen, die geneigt sind, einen Missbrauch zu begehen, werden hier angeheizt, ermutigt, eine Tat auch wirklich zu begehen. Das ist ein Phänomen, das wir auch in anderen Bereichen wie der Hasskriminalität sehen.

Ist die Szene durchs Netz also auch gewachsen?

Das Internet ist da schon wie eine Echokammer. Je mehr sich Lebenssachverhalte ins Internet verlagern, umso mehr können sich solche Szenen bilden und auch wachsen. Zugleich gilt aber: Dass wir jetzt solch eine große Anzahl von Spuren verfolgen können, ist ein Erfolg der bisherigen Ermittlungsarbeit. Hier haben hoher Ressourceneinsatz und zielgerichtete Ermittlungen dazu geführt, ein Dunkelfeld zu erhellen. Wir gehen auch davon aus, dass die Zahl der möglichen Opfer größer ist als bisher vermutet. Die Hypothese, dass auf Worte Taten folgen, ist nicht selten richtig.

Die Täter haben sich unter Pseudonymen ausgetauscht - wie sehr gibt die Anonymität den Tätern Sicherheit?

Anonymität an sich befähigt nicht zu Straftaten, Anonymität im Internet hat sogar eine berechtigte Rolle, wenn man mal an den Schutz von Grundrechten denkt. Das Problem ist die Summe anderer Faktoren, die uns behindern, die Anonymität in berechtigten Fällen zu durchbrechen. Rechtliche Rahmenbedingungen müssen verbessert werden. Dazu gehört die Vorratsdatenspeicherung. Ich kann viele Argumente der Gegner nachvollziehen, ich glaube aber, dass wir die ideologischen Gräben hier verlassen müssen, damit wir eine grundrechtsschonende und intelligente Vorratsdatenspeicherung schaffen können, um solche Täter schneller und effektiver zu ermitteln. Außerdem muss die internationale Rechtshilfe schneller funktionieren.

Was wissen Sie bisher über die Tatverdächtigen?

Ich halte es für eine valide Hypothese, dass die Tatverdächtigen zu jeder sozialen Schicht gehören. Wenn sich so viele Menschen in einem Chat beteiligen, kann da nicht nur eine soziale Gruppe beteiligt sein. Anhand der gewählten Chatsprachen wissen wir außerdem, dass ein Schwerpunkt auch im deutschsprachigen Raum liegt.

Rechnen Sie damit, dass die rund 30.000 Spuren auch zu 30.000 Tatverdächtigen führen werden?

Ich würde andersherum antworten, dass ich es für unwahrscheinlich halte, dass die Spuren nur zu wenigen Hundert Menschen führen. Wir haben klar individualisierbare digitale Identitäten ausgemacht. Daran festgemacht ist die Zahl 30.000 als obere Grenze möglicher Tatverdächtiger.

Für die Ermittlungen in diesen Fällen müssen große Mengen von Daten zu schlimmstem Kindesmissbrauch gesichtet werden – wie kommen die Ermittler und Ihre Kollegen damit zurecht?

Dieses Material ist sehr belastend. Aber wir lernen im Rahmen unserer beruflichen Tätigkeit einen professionalen Umgang. Wer beispielsweise psychologische Hilfe benötigt, für den haben wir Vorkehrungen getroffen. Ich erwarte von allen, dass wir unserem Beruf mit 100 Prozent nachgehen, umgekehrt schulden wir natürlich Hilfe und Unterstützung, wenn sich dieses Engagement negativ auswirkt. Bisher hat von meinem Kolleginnen und Kollegen der Staatsanwaltschaft noch niemand Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

Wann ist mit Ermittlungserfolgen zu rechnen?

Unser Ehrgeiz ist, dass wir ebenso schnelle wie juristisch saubere Ermittlungserfolge erzielen. Jeder einzelne Straftäter, den wir aus der Anonymität ziehen, ist ein Ermittlungserfolg.

>>> Dafür steht „ZAC“

Das ist die Unter Cybercrime versteht man alle Straftaten, die sich gegen das Internet und IT-Systeme richten oder mittels Informationstechnik begangen werden. In der 2016 geschaffenen Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) NRW, die bei der Staatsanwaltschaft Köln angesiedelt ist, beschäftigen sich 21 Staatsanwälte mit Cybercrime-Verfahren von herausgehobener Bedeutung – dazu gehören die Gefährdung kritischer Infrastruktur, Darknet-Verfahren, Hass in sozialen Netzwerken und organisierte Kriminalität.

Die ZAC ist die bundesweit größte Cybercrime-Einheit der Justiz. Oberstaatsanwalt Markus Hartmann war Gründungsdezernent einer Vorläufer-Einheit im Oberlandesgerichtsbezirk Köln, die in der ZAC NRW aufgegangenen ist. Seit April 2016 leitet er die Zentralstelle. Hartmann ist zudem Mitglied der sogenannten Bosbach-Expertenkommission des Landes „Mehr Sicherheit für Nordrhein-Westfalen“ unter Vorsitz von Wolfgang Bosbach.