Washington/Houston. Am Tag der Beerdigung von George Floyd tröstet der Präsidentschaftsanwärter der US-Demokraten, Joe Biden, Angehörige des Getöteten.

Chorgetöse, inbrünstiger Gesang, Orgel-Ekstase und Mitklatsch-Gospel, bei dem auch Sam Cookes programmatische Soul-Perle aus den 60er Jahren vom nahenden Wandel (“A Chance is gong come”) nicht fehlen durfte. Kämpferische, tränentreibende Reden von Polit-Prominenten und Pastoren, die in der “Fountain of Praise”-Kirche von Houston/Texas mit donnerndem Pathos Gerechtigkeit und Fairness für das schwarze Amerika einklagten.

Dazu eine festlich gewandete, auf 500 Personen begrenzte Trauergemeinde, in der viele Corona-Mundschutzmasken trugen mit der Aufschrift der letzten Worten des Mannes (“I can`t breathe”), der vor zwei Wochen auf den Straßen von Minneapolis durch die Gewalt eines Polizisten-Knies zu Tode kam. Und das alles live und würdevoll und hoch emotional für ein Millionen-Publikum an den Fernsehgeräten daheim übertragen:

Kaum Zweifel: Als George Floyd am Dienstagnachmittag nach über dreistündiger Trauerferier im Grab neben seiner Mutter im nahegelegenen Pearland seine letzte Ruhe fand, hatte der 46-jährige Schwarze beinahe den Stand eines säkularen Heiligen erreicht. Allen voran Hauptredner Al Sharpton, Bürgerrechtler und schwarzer Pastor aus New York, der schon bei Pop-Gott Michael Jackson 2009 die Schlüssel-Rede hielt, betonte immer wieder, dass Floyds Tod nicht vergebens gewesen sei. Weil nun der Wandel, das Ende der Diskriminierung kommen werde. Kommen müsse. Diesmal wirklich.

Joe Biden zeigt Mitgefühlt – Trump twittert Verschwörungstheorien

Dafür jedenfalls will sich Joe Biden mit aller Kraft einsetzen. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten hatte am Tag vor der Beerdigung in Texas der Familie Floyds eine Stunde lang Trost gespendet. In einer per Video zugeschalteten Ansprache sagte der Alt-Vizepräsident: “Kein Kind sollte die Frage fragen müssen, die zu viele schwarze Kinder seit Generationen fragen mussten: Warum. Warum ist Papa weg.”

Besonders für die sechsjährige Tochter Floyds, Gianna, fand der 77-Jährige herzerwärmende Worte: “Dein Vater ist so stolz auf Dich”, sagte Biden unter dem Beifall der Trauergäste und wiederholte, was er bereits zuvor bekundet hatte: Dass der Tod George Floyds “die Welt verändern wird”. Weil es sei “einer dieser großen Wendepunkte in der amerikanischen Geschichte ist, was bürgerliche Freiheiten, Bürgerrechte und die gerechte Behandlung von Menschen mit Würde betrifft.” Denn wenn George Floyd Gerechtigkeit erfahre, so Biden, “werden wir wirklich auf unserem Weg zur Rassengerechtigkeit in Amerika sein”.

Unterdessen suchte Präsident Donald Trump aus Washington mit abgeschmackten Verschwörungstheorien via Twitter krampfhaft nach Aufmerksamkeit. Selbst Republikaner reagierten mit Kopfschütteln. Aber: Kann Joe Biden liefern? Kann er den “Wendepunkt”, so er denn wirklich da ist, politisch gestalten?

Houston am Dienstag: Sargträger bringen den Sarg von George Floyd zur Beerdigung in die Kirche The Fountain of Praise.
Houston am Dienstag: Sargträger bringen den Sarg von George Floyd zur Beerdigung in die Kirche The Fountain of Praise. © dpa | Godofredo A. Vásquez

Großteil der US-Amerikaner glauben an strukturelles Polizei-Problem

Biden wie Trump versuchen seit Tagen, im Zentrum der Debatten zu stehen, die Amerika schon nach früheren Gewaltexzessen der Polizei gegen Schwarze geführt hat. Nur nicht so hartnäckig und fast flächendeckend. Nur nicht von so einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen. Nur nicht, wenn gleichzeitig ein tödliches Virus dem ganzen Land wie ein unsichtbares Knie im Nacken liegt – also genau so wie der Polizist in Minneapolis, der minutenlang auf diese Weise auf dem am Boden liegenden George Floyd hockte und ihm die Luft abdrückte.

In einer von der „Washington Post“ präsentierten Umfrage sagen 70 Prozent der Amerikaner, Floyds Tod stehe für ein grundlegendes Problem in der Polizeiarbeit. Nur 30 Prozent sprechen von einem isolierten Extremfall. Die Zahlen deuten auf einen Meinungsumschwung hin. Vor sechs Jahren – nach dem von weißen Polizisten in Ferguson (Missouri) erschossenen Schwarzen Michael Brown – glaubten noch über 50 Prozent der Amerikaner, brutale Staatsgewalt und strukturelle Benachteiligung seien die Ausnahme.

Dass dabei die Hoffnungen auf Abhilfe nicht auf Amtsinhaber Trump liegen, ist eindeutig. 61 Prozent sind unzufrieden mit seinem Krisenmanagement, vor allem, was die Militarisierung der Proteste durch Nationalgarde und Armee anbelangt. Nur 35 Prozent finden den Umgang des Präsidenten mit der Tragödie von Minneapolis fünf Monate vor der Wahl richtig.

Trump pocht auf Recht und Ordnung – ohne Empathie

Trump, der seit 14 Tagen unverbindlich und ohne erkennbare Empathie über George Floyd spricht, hat für sich die Nische des Mannes reklamiert, der auf Recht und Ordnung pocht, auf die Polizei nichts kommen lässt („99 Prozent sind wunderbare Leute“) und die Forderungen der Demokraten mit selektiver Wahrnehmung als staatsgefährdende Spinnerei von Radikalen bezeichnet.

Dabei steht die missverständliche Formulierung „Defund the Police“ (zu Deutsch: Entzieht der Polizei die Finanzierung“) im Mittelpunkt. In Minneapolis gipfelte das in einer Willensbekundung etlicher Stadträte, die Polizei ganz neu zu denken und die bestehende Struktur abzulösen. Wann? Wie? Niemand weiß es.

Was aber klar ist: Viele Schwarze dort glauben seit Langem, dass ihre Lebenserwartung steigt, wenn die traditionellen Ordnungshüter aus dem Stadtleben verschwänden; so massiv und statistisch nachweisbar ist die Benachteiligung von Afroamerikanern seit Jahren in der Metropole des Bundesstaates Minnesota.

• Kommentar: Donald Trump hat weder Herz noch Verstand

Art Acevedo, der Chef des Houston Police Departments bei der Beisetzung von George Floyd in Houston.
Art Acevedo, der Chef des Houston Police Departments bei der Beisetzung von George Floyd in Houston. © AFP | JOE RAEDLE

New York und Los Angeles wollen Jugend- und Sozialarbeit stärken

Trump liest aus der als aufrüttelnder Appell gemeinten Ankündigung jedoch „Abschaffung der Polizei“, Einstieg in „Gesetzlosigkeit und Anarchie“. Und er sagt: Nicht mit mir. Darum nannte seine Sprecherin Kayleigh McEnany etliche Vorschläge im am Montag vorgestellten Reformpaket der Demokraten pauschal „Rohrkrepierer“, die spätestens im republikanisch beherrschten Senat zu Fall gebracht würden.

So entledigt sich das Weiße Haus der Bewertung, was Metropolen wie New York und Los Angeles – wo die Polizeidirektionen jährlich zusammengerechnet rund neun Milliarden Dollar Steuergeld verschlingen – unter „Defund the Police“ verstehen. Bill de Blasio und Eric Garcetti, die Bürgermeister der beiden Städte, wollen auf Druck der Demonstranten in den Etats die Gewichte verschieben. Kürzungen bei der Polizei sollen der Jugend- und Sozialarbeit zufließen und den Ausbau psychosozialer Betreuungsangebote beschleunigen.

Dahinter steht die selbst von Polizeigewerkschaften, die in der US-Polizeiarchitektur eine zentrale Verhinderungsmacht besitzen, geteilte Überzeugung, dass immer mehr Aufgaben bei der Konfliktschlichtung und Kriminalitätsverhinderung auf den Schultern der rund 800.000 hauptamtlichen Cops in Amerika abgeladen worden seien. Garcetti und de Blasio sind sich einig: „Probleme müssen verhindert werden, bevor sie zu einem Polizeieinsatz führen.“

Trumps Regierung zieht systemischen Rassismus in der Polizei in Zweifel

Auch Gegenkandidat Biden will die Polizei, die ohnehin kommunale Autonomie genießt und sich mit 18.000 Direktionen im Land weitgehend dem Zugriff Washingtons entzieht, alles andere als finanziell austrocknen. Als Vizepräsident unter Barack Obama weiß der ehemalige Senator Biden sehr genau, was nach dem von der Polizei verschuldeten Tod des Afroamerikaners Freddie Gray 2015 und den darauffolgenden Ausschreitungen in Baltimore geschah: Die Ordnungsmacht zog sich wochenlang zurück. Die Zahl der Tötungsdelikte in sozial schwachen, meist von Schwarzen bewohnten Stadtteilen stieg an.

Biden will vielmehr zentralstaatliche Zuschüsse für die Polizei an die Bedingung knüpfen, dass die Ordnungshüter vor Ort als Helfer und ehrlicher Makler in der Gemeinde agieren – und nicht gerade von Schwarzen, Latinos und anderen Minderheiten als Besatzungsmacht empfunden werden. Allein, den „systemischen Rassismus“, den Biden im Polizeiapparat erkennt und der durch Statistiken und wissenschaftliche Studien belegt ist, stellt die Regierung Trump komplett in Zweifel.

Chad Wolf, derzeit Chef des Heimatschutzministeriums, erklärte, die Polizei sei nicht „institutionell rassistisch“. Ähnlich drückte sich Justizminister Bill Barr aus. Er lehnt auch mit Verweis auf bestehende Grundsatzurteile des Obersten Gerichtshofes eine Aufweichung der strafrechtlichen Immunität für Polizisten ab, wie sie die Demokraten demnächst beschließen wollen. Auf die Frage, wie es zu erklären sei, dass nach offiziellen Behördenzahlen seit 2015 Schwarze doppelt so oft von Polizisten getötet worden seien wie Weiße, gab der als Erfüllungsgehilfe Trumps geltende Jurist keine Antwort.

George Floyds Tod – Mehr zum Thema Rassismus und Polizeigewalt