Wesel. Givara E. ist 2015 aus Syrien nach NRW gekommen. Beim Anblick der Bilder von der türkisch-griechischen Grenze erinnert er sich an seine Flucht.

Verzweifelte, wütende Männer vor Stacheldrahtverhauen. Tränengasschwaden. Kinder, die unter freiem Himmel schlafen müssen. Die Bilder von der türkisch-griechischen Grenze lösen bei manchen Mitleid aus, bei anderen Verunsicherung und Angst vor einer Wiederholung der sogenannten Flüchtlingskrise. Bei Givara E. wecken sie Erinnerungen. Er weiß, was diese Menschen durchmachen. Er hat dasselbe wie sie erlebt, als er vor viereinhalb Jahren nach Deutschland gekommen ist.

Givara E. (30) schütteres schwarzen Haar und Bartschatten, sitzt in einem Café in Wesel, der Stadt, in der er als Chemielaborant beschäftigt ist. Auf einem Laptop schaut er sich die Fotos an, die an der Grenze entstanden sind, seit der türkische Präsident Erdogan sie für geöffnet erklärt hat. Er weiß, was die Leute auf den Bildern denken: „Sie haben die Hoffnung einen Ort zu erreichen, wo man als Mensch behandelt wird.“

Die Eltern leben im türkisch besetzten Afrin: Klima der Angst

Der junge Kurde stammt aus Afrin im äußersten Nordwesten Syriens. Einer Region, die vom Krieg unberührt geblieben war, bis sie im Januar 2018 von der türkischen Armee gemeinsam mit islamistischen Milizen überfallen und besetzt wurde. Seine Eltern leben noch dort, in einem Klima der Angst. „Man hat dort keine Rechte mehr, ihr Haus ist zweimal geplündert worden. Erst vor zwei Tagen ist ein Bekannter erschossen worden, weil er den Besatzern widersprochen hat.“

Für das Terrorregime in Afrin verantwortlich sind die Hilfstruppen der türkischen Regierung, eben jenes Regimes, das nun erneut von den europäischen Regierungen hofiert wird, damit es eine neue Flüchtlingsbewegung wie 2015 verhindert. „Internationale Politik ist unfair“, sagt Givara, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, weil er seine Eltern nicht in Gefahr bringen will.

Der 30-Jährige hat sich schon Jahre vor dem türkischen Überfall auf den Weg gemacht. „Ich wollte nach meinem Studium nicht zum Militär eingezogen werden, ich hatte große Angst. Ich wollte niemanden töten und für niemanden kämpfen.“ Also machte er sich im September 2015 auf den Weg, über die klassische Balkanroute. Türkei, über die Ägäis, Griechenland, Mazedonien, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland. 1200 Dollar bezahlte er für die Schleuser.

Givara landete in NRW, einer von 232.000 Flüchtlingen, die 2015 in unser Bundesland kamen. Mit 280 anderen Flüchtlingen wurde er in Mehrhoog bei Hamminkeln in einer Turnhalle untergebracht.

Noch heute ist er den Menschen dankbar, die dort damals als ehrenamtliche Helfer engagiert waren. „Sie waren bereit, unsere Probleme zu verstehen, haben uns die Regeln beigebracht. Manchmal gab es Ärger, aber sie haben uns nie aufgegeben.“ Er hat jetzt viele deutsche Freunde, darauf ist er stolz. „Es ist wichtig, dass wir nicht in zwei getrennten Welten leben.“

Er erinnert sich, was er auf der Flucht durchgemacht hat

Wenn er jetzt die Bilder von der Grenze sieht, erinnert er sich an das, was er durchlebt hat. An die Nacht in der Kälte vor der mazedonischen Grenze, wo sie zurückgehalten wurden. Oder daran: „Wir standen mit Hunderten anderer Menschen in einer Schlange, um einen Teller Suppe zu bekommen oder in einen Bus steigen zu können. Ich denke an den netten Mann in Serbien, der uns in seinem Haus übernachten ließ. Das werde ich nie vergessen.“

Wie damals sind es nicht nur Menschen aus Syrien, die nach Mitteleuropa wollen. „Bei uns waren Leute dabei aus Afghanistan, dem Irak, Nigeria.“ Seine Landsleute, die jetzt an der türkisch-syrischen Grenze stünden, könnten jetzt nicht zurück in die Heimat. „Sie haben hinter sich ein zerstörtes Land, das von einem Diktator regiert wird, den sie stürzen wollten.“

Auch interessant

c488aef4-5d6b-11ea-b64b-2626995a6f37
Von Christian Kerl, Kerstin Münstermann und Christian Unger

Die Menschen triebe auch die Angst um, vom Regime des Präsidenten inhaftiert zu werden, wenn sie zurückkehrten. „Ich würde lieber sterben, als in ein Gefängnis von Assad zu kommen.“ Und in der Türkei werde die Situation für die Syrer immer hoffnungsloser. „Fast jeder will die Türkei verlassen. Die Syrer werden dort ausgebeutet, man bekommt so gut wie keine Hilfe, viele Kinder können nicht zur Schule gehen.“

Givara sagt, dass er verstehen kann, dass die deutsche Politik alles versucht, dass keine neuen Flüchtlinge kommen. „Sie hat Angst, dass rechte Parteien das ausnutzen, um neue Wähler zu bekommen.“ Einerseits. Andererseits „stehen da Tausende an der Grenze. Die können nirgendwo hin“. Er wünsche sich, dass der Weg für sie geöffnet würde, damit „sie in Sicherheit leben können, und dass eine Lösung für die gefunden wird, die gerade in Idlib bombardiert werden“.

Und ja, wenn Frieden in Syrien herrsche und Sicherheit auch für diejenigen die gegen Assad aufgestanden sind, dann würden viele Syrer zurückkehren, glaubt Givara. „Unsere Gespräche drehen sich um die Heimat, darum, was wir tun würden, wenn wir jetzt da wären. Da ist sehr viel Sehnsucht.“