Essen/Afrin. . Islamistische Milizen marodieren im türkisch besetzten Afrin. Die mit ihnen verbündete Türkei lässt sie gewähren, kritisieren Menschenrechtler.
Menschenrechtler werfen der Türkei vor, nichts gegen schwere Menschenrechtsverletzungen in dem von ihr besetzten kurdischen Kanton Afrin im Nordwesten Syriens zu unternehmen. Mit Ankara verbündete islamistische Milizen sollen willkürlich Menschen entführen, Lösegeld erpressen und Gefangene brutal foltern, berichtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
Kamal Sido, der Nahostexperte der Organisation, war im April für mehrere Wochen in der Region unterwegs. In einem Flüchtlingslager traf er einen Kurden aus einem Dorf nördlich von Afrin, der von Milizionären der „Sultan-Suleyman-Schah-Brigaden“ verhaftet worden war.
„Der Mann wurde tagelang gefesselt, geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt. Außerdem haben sie ihm die Fingernägel herausgerissen“, erzählt Sido.
Frauen müssen sich verschleiern
Kein Einzelfall. Raub, Entführungen und Lösegelderpressungen seien im besetzten Afrin an der Tagesordnung, sagt Sido. Frauen würden belästigt und gezwungen, sich zu verschleiern. „Die Leute haben wegen der marodierenden Milizen Angst, ihre Häuser zu verlassen.“
Was der Nahostbeauftragte der GfBV erzählt, reiht sich ein in zahllose glaubhaften Berichte von Menschen vor Ort, Hilfsorganisationen und politischen Aktivisten.
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Die Türkei hatte den kurdischen Kanton gemeinsam mit verschiedenen islamistischen Milizen Anfang 2018 angegriffen. Bis dahin war Afrin von den Wirren des Kriegs in Syrien weitgehend verschont geblieben, viele Flüchtlinge aus dem Rest des Landes hatten dort Obdach gefunden.
Wie in den beiden anderen kurdischen Kantonen der auch Rojava genannten Kurdengebiete wurden in Afrin nach 2011 Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut, in denen Frauen gleichberechtigt sind und religiöse wie ethnische Minderheiten respektiert werden. Kontrolliert wurde die Region militärisch von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, politisch von der Partei PYD.
Ankara stuft die YPG wegen ihrer ideologischen Nähe zur kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terrororganisation ein. Der Angriff auf Afrin wurde vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags als völkerrechtswidrig eingestuft.
Im Zuge der Militäroperation „Olivenzweig“ wurden rund 120.000 Kurden aus Afrin vertrieben, die heute unter prekären Bedingungen in Flüchtlingscamps in der Nähe der Kleinstadt Tall Rifaat nördlich von Aleppo leben. „Den Menschen geht es schlecht. Sie brauchen dringend medizinische Versorgung, es breiten sich ansteckende Hautkrankheiten aus“, berichtet Sido.
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Tall Rifaat und die zwölf kurdischen Dörfer in der Umgebung sind in den vergangenen Tagen Ziele türkischer Luftangriffe und Artillerieattacken geworden. Dabei wurden mehrere Menschen verletzt.
Die Türkei hat in Afrin zehntausende arabische Familien angesiedelt, ein Vorgehen, dass an das des syrischen Regimes in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Unter diesen Arabern sind zahlreiche Dschihadisten, die im Frühjahr vergangenen Jahres aus Ost-Ghuta abziehen konnten.
Die kurdische Identität wird ausgelöscht
Die kurdische Identität Afrins wird ausgelöscht. Als die gleichnamige Hauptstadt des Kantons erobert wurde, zerstörten die Angreifer als erstes die Statue des Schmiedes Kawa, einer mythologischen Gestalt der kurdischen Geschichte.
Das kurdische Frühjahrsfest Newroz wurde verboten, an offiziellen Gebäuden in Afrin weht die türkische Fahne. In den Moscheen predigen radikale Imame. „Arabisierung, Türkisierung und Islamisierung sind das, was Erdogan erreichen will“, sagt Kamal Sido.
Vor wenigen Wochen hat die Türkei mit dem Bau einer Mauer im Afrin begonnen. In kurdischen Kreisen wird befürchtet, dass Afrin annektiert und der türkischen Provinz Hatay zugeschlagen werden soll. „Sie wollen, dass Afrin ein Teil der Türkei wird“, sagt Salih Muslim, ein führender Funktionär der in Rojava regierenden Partei PYD. Bislang seien 15 Kilometer der Mauer gebaut worden, die Afrin vom Rest Syriens abschnitten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits mehrfach angekündigt, auch die weiter östlich gelegenen Kurdengebiete angreifen und von „Terroristen säubern“ zu wollen. Bislang schützt die Präsens US-amerikanischer Truppen die Kurden dort vor einem türkischen Einmarsch.
Kurden als Partner gegen den IS
Für die Amerikaner und die von ihnen angeführte Anti-IS-Koalition sind die kurdisch dominierten Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF) die effizientesten Partner im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“. Ohne die Kurden wäre das Terrorkalifat nicht zerschlagen worden.
Ein Abzug amerikanischer Truppen, wie sie US-Präsident Donald Trump nach der militärischen Niederlage des IS angekündigt hat, würde den türkischen Expansionsplänen in die Karten spielen. Ob es soweit kommt, ist völlig offen: Aktuell sieht es so aus, als verbliebe ein kleines US-amerikanisches Militärkontingent im Land.
Planspiele der Großmächte
Die Amerikaner haben eine nicht näher definierte Sicherheitszone entlang der türkischen Grenze ins Spiel gebracht, um das in jüngster Zeit zunehmend angespannte Verhältnis zu Ankara zu verbessern. Russland wiederum plädiert dafür, dem syrischen Regime wieder die vollständige Kontrolle über die Kurdengebiete zu überlassen.
Beide Modelle würden ein faktisches Ende der kurdischen Selbstverwaltung bedeuten, die seit dem Beginn der Revolution in Syrien 2011 aufgebaut wurden. Salih Muslim macht klar, dass die Kurden sich gegen beide Vorhaben wehren werden: „Wir werden es nicht dulden, dass auch nur ein türkischer Soldat unsere Gebiete östlich des Euphrat betritt. Wir werden unsere Region weiterhin kontrollieren und sie beschützen.“
Eskalation in Idlib
Zusätzlicher Druck auf die kurdischen Gebiete wird durch eine weitere Entwicklung ausgeübt: Die in den vergangenen Tagen immer heftiger werdenden und von Russland unterstützten Angriffe des syrischen Regimes auf die verbliebenen Rebellengebiete in Idlib, wo sich vor allem dschihadistische Gruppen gesammelt haben und drei Millionen Menschen mehr oder weniger in Geiselhaft halten.
Bislang hatte ein fragiles Stillhalte-Abkommen zwischen der Türkei, Russland und dem Iran gehalten, die sich im sogenannten Astana-Format auf Deeskalationszonen in Idlib geeinigt hatten. Dieses Abkommen scheint hinfällig geworden zu sein, seitdem der letzte Gipfel in Astana Ende April scheiterte.
Seit Beginn der Angriffe auf Idlib seien Tausende weitere arabische Familien, häufig von islamistischen Kämpfern, nach Afrin geflohen, berichtet Salih Muslim. „Die Türkei entwickelt Afrin zu einem sicheren Hafen für Terroristen.“ Zudem würden weiterhin kurdische Familien gezwungen, Afrin zu verlassen. Wohl nicht zufällig haben parallel zu den syrisch-russischen Angriffen auch die türkischen Attacken auf Tall Rifaat zugenommen.
Von der internationalen Gemeinschaft erwartet sich Salih Muslim nicht mehr viel. „Die Türkei hält die Besatzung Afrins auch mit Leopard-2-Panzern aus Deutschland aufrecht.“ Alle Nato-Partner Ankaras hätten bislang zu dem türkischen Vorgehen geschwiegen. „Wir sind ohne Hoffnung, dass sich das ändern wird.“
Er sagt aber auch: „Der Widerstand gegen die Besatzung wird weitergehen.“ In den vergangenen Wochen hat die „Afrin-Befreiungskräfte“ (HRE) etliche Attacken gegen die türkischen Besatzungssoldaten und ihre islamistischen Verbündeten durchgeführt, bei denen Dutzende Menschen starben.