Afrin/Essen. . Im kurdischen Kanton Afrin im Norden Syriens war es bisher friedlich. Nun hat Ankara dort angegriffen und riskiert ein Zerwürfnis mit den USA.

Die türkische Armee hat in der Nacht zum Freitag mit massivem Beschuss kurdischer Dörfer in der syrischen Grenzregion Afrin begonnen. Nach Angaben der Kurdenmiliz YPG schlugen etwa 70 Granaten in mehreren Ortschaften ein. Der türkische Verteidigungsminister Nurettin Canikli sagte, damit habe de facto die seit Tagen angekündigte Offensive gegen die YPG begonnen Soldaten hätten die Grenze aber noch nicht überschritten, sagte der Minister dem Sender AHaber und fügte hinzu, dass die Türkei ihren Plan, die kurdische "Terrororgansiation" vollständig zu eliminieren, mit Gewissheit realisieren werde.

Damit droht die militärische Lage im Nordwesten Syriens weiter zu eskalieren. Präsident Erdogan hatte bereits vor Tagen eine groß angelegte Offensive gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Afrin angekündigt. Die kurdischen Milizen dort hatten vor einem „schweren Krieg“ gewarnt, sollte der Angriff beginnen. Die Entwicklung könnte auch zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den Natopartnern Türkei und USA führen.

Afrin, in etwa so groß wie das Saarland, ist einer der drei Kantone Rojavas, des quasi-autonomen kurdischen Gebietes im Norden Syriens. Bislang ist die Region vom Krieg verschont geblieben. In Afrin leben ungefähr eine Million Menschen, darunter Zehntausende Bürgerkriegsflüchtlinge.

In den syrischen Kurdengebieten ist die PYD die herrschende Kraft, eine Schwesterorganisation der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die türkische Regierung bezeichnet die PYD ebenso wie die PKK, die auch in Deutschland als Terrororganisation eingestuft ist, als Terrororganisation. Ankara will mit allen Mitteln verhindern, dass sich an der türkischen Südgrenze eine autonome kurdische Region entwickelt, wie sie bereits im Nordirak existiert.

Die verlässlichsten Partner im Kampf gegen den IS

Allerdings waren die Milizen der PYD, die Volksverteidigungseinheiten YPG und ihre Frauenkampfverbände, die YPJ, in den vergangenen Jahren die effizientesten und verlässlichsten Partner des Westens im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“. Ein von ihnen dominiertes Militärbündnis nahm unter anderem im Oktober vergangenen Jahres Rakka ein, die Hauptstadt der Dschihadisten in Syrien. Die kurdischen Milizen werden von amerikanischen Spezialkräften beraten und von den USA massiv aufgerüstet.

Nach dem faktischen Ende des Kalifats planen die USA nun nach US-Medienberichten den Aufbau einer Grenztruppe, deren Rückgrat die kurdischen Kräfte sein sollen. Der Plan dürfte auch dem amerikanischen Bestreben geschuldet sein, das Feld in Syrien nicht Russland und dem Iran zu überlassen.

Der türkische Präsident Erdogan kritisiert die USA wegen der geplanten Grenztruppe scharf: „Ein Land, das wir einen Verbündeten nennen, besteht darauf, eine Terror-Armee an unserer Grenze zu bilden“, sagte er am Montag in Ankara. Zugleich drohte er unverhohlen mit einem Angriff. Die türkische Armee werde in Kürze „alle Terror-Nester“ in Afrin und Manbidsch auslöschen. Mit dem Beschuss in der Nacht zu Freitag ließen die türkischen Streitkräfte den Worten des Staatspräsidenten nun Taten folgen.

Die Stadt Manbidsch, östlich von Afrin am Euphrat gelegen, wurde im Sommer 2016 von den kurdisch dominierten Kräften zurückerobert. Kurze Zeit später rückten türkische Truppen in Syrien ein und verhinderten so einen Zusammenschluss der kurdischen Gebiete östlich und westlich des Euphrat.

© Gerd Bertelmann

Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei ließ noch am Mittwoch verlautbaren, ein „Terror-Korridor“ an der türkischen Grenze sei nicht hinnehmbar. „Notwendige Schritte“ stünden unmittelbar bevor. Seit mehreren Monaten haben türkische Truppen und mit ihnen verbündete Milizen den kleinen Kanton eingekreist.

Die Amerikaner haben mehrere Stützpunkte in der Region. Erdogan hat den Nato-Partner bereits gewarnt, sich bei einer Offensive einzumischen. „Andernfalls übernehmen wir keine Verantwortung für unerwünschte Vorfälle.“ Im August vergangenen Jahres hatten sich protürkische Rebellen und US-Soldaten in der Nähe von Manbidsch bereits ein kurzes Feuergefecht geliefert.

Russland muss grünes Licht für die Offensive geben

Die Kurden geben sich noch Stunden vor dem Angriff entspannt. „Die Türken haben derzeit Probleme mit jedem. Aber sie können nicht gegen alle kämpfen“, sagte der PYD-Funktionär Salih Müslim im Gespräch mit der NRZ. Seine Partei hat die Vereinten Nationen um Unterstützung gebeten. Sollte die türkische Armee angreifen, sei man aber nicht auf Hilfe angewiesen, beteuert Müslim: „Wir werden uns selbst verteidigen können. Wir haben keine Furcht.“

Nesrin Abdullah, Kommandantin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ
Nesrin Abdullah, Kommandantin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ © Handout

Nesrin Abdullah, die Kommandantin der YPJ, wird noch deutlicher: „Jeglicher Angriff von türkischer Seite wird mit stählerner Faust gebrochen werden“, teilte sie auf Anfrage der NRZ mit. Dem IS sei es nicht gelungen, die kurdischen Kräfte zu besiegen, das werde auch der türkischen Armee nicht gelingen. „Unsere Stärke ist gewachsen, und der türkische Staat sollte wissen, dass Afrin sein Grab wird.“ Allerdings warnt sie auch: Eine friedliche Lösung des Syrienkonflikts würde durch einen türkischen Angriff unmöglich gemacht: „Es würde zu einem schweren Krieg kommen.“

Wie es scheint, hat der Krieg in der Nacht zu Freitag begonnen. (sat mit rtr)