Bochum. Das Bundesteilhabegesetz soll Menschen mit Behinderung selbstständiger machen. Doch es hakt bei der Umsetzung. Was Betroffene wissen müssen.
In den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in NRW herrscht aktuell große Unruhe. Am 1. Januar ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) nicht nur die Finanzierung der Leistungen für Behinderte, sondern auch deren Organisation. Das Gesetz will Menschen mit Hilfebedarf zu „Architekten des eigenen Lebens“ machen, heißt es. Doch sich plötzlich selbst um Wohnung, Verpflegung und Betreuung zu kümmern, stellt viele vor Herausforderungen.
Bis zum Jahresanfang müssen allein in NRW 43.500 Bewohner stationärer Behinderteneinrichtungen einen Antrag auf Grundsicherung stellen. Denn das Gesetz verlangt, Leistungen wie Wohnen und Verpflegung klar von individuellen Fachleistungen im Rahmen der Pflege zu trennen. Heime müssen dazu Miet- und Betreuungsverträge aufsetzen, die in der Regel die gesetzlichen Vertreter beim örtlichen Sozialamt einreichen.
Viele haben noch keine Grundsicherung beantragt
Das ist in vielen Fällen noch nicht passiert, wie die Caritas in Essen mitteilt. Knapp die Hälfte der Betroffenen hätte bisher keinen Antrag gestellt, heißt es. „Wenn ein Bewohner oder sein Betreuer den Antrag erst am 2. Januar stellt, erhält er zunächst keine Grundsicherung und kann seine Miete nicht überweisen“, fürchtet Martin Peis vom Essener Caritasverband. Er fordert die Landschaftsverbände auf, in diesen Fällen einzuspringen. Die haben bisher das Leben der Menschen in Wohngruppen komplett über Pauschalen finanziert. Ab Januar tragen sie nur noch die Kosten für die Pflege. „Auch im Januar muss kein Träger Angst haben, dass ihm die nötigen Mittel fehlen. Darum werden wir uns kümmern“, verspricht Matthias Münning, Sozialdezernent des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL).
Reinhard Jäger, Leiter der Bochumer Diakonie-Einrichtung für gemeinnütziges Wohnen, ist besorgt, dass das Gesetz dennoch weitreichende Folgen für den Alltag der 30 Bewohner und rund 20 Beschäftigten haben wird. Um Hilfeleistungen einzelnen Klienten zuordnen und korrekt abrechnen zu können, müssten Pflegekräfte in Zukunft jeden Handschlag dokumentieren. „Das wird eine Herausforderung, denn der Rahmen einer Wohngruppe bedeutet schon Grenzen der Individualität“, sagt Jäger.
Sorgen bereitet ihm auch die Finanzierung von Gruppenaktivitäten. Gemeinsame Bastelstunden, der Besuch des Therapiehundes oder ein Ausflug zum Konzert: All das werde durch das BTHG kaum noch möglich sein. „Das wäre für die Nutzer fatal.“ Münning sagt dazu: „Es muss nicht alles als Einzelleistung abgerechnet werden. Die fachliche Betreuung rechnet der LWL nach wie vor in der bisherigen Weise ab.“
Alex letzter Konzertbesuch?
Ein Luftballon mit Smiley-Gesicht neben der Tür, an der Wand zahlreiche Fotos von Familie und Freunden: Das Zimmer von Alex ist das Zuhause eines lebensfrohen Menschen. Auf die Frage von Reinhard Jäger, Leiter der stationären Einrichtung für Behinderte der Diakonie Ruhr an der Wasserstraße in Bochum, ob er sich dort wohlfühle, dreht der Rollstuhlfahrer den Kopf in dessen Richtung und formt die Lippen zu einem Lächeln.
„Das heißt ‘ja’“, sagt Jäger und erklärt: „Alex kann nicht sprechen. Den Kopf wegdrehen heißt ‘nein’“. Doch im Moment ist ungewiss, ob es weitere Fotos von Konzertbesuchen geben wird. Ein Gesetz dürfte des Leben von Alex und vielen anderen Menschen mit Behinderung verändern.
Land und Verbände teilen künftig die Kosten
Zum Jahresanfang tritt die dritte von insgesamt vier Stufen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), das die große Koalition im Bundestag 2016 erlassen hat, in Kraft. Sie reformiert und individualisiert die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung. Bisher war deren Leben in Einrichtungen über Pauschalen der Landschaftsverbände finanziert. Künftig werden die Kosten für Wohnen und Verpflegung über die Grundsicherung von den Sozialämtern gezahlt, die Landschaftsverbände zahlen nur noch Fachleistungen, die in den Bereich der Pflege fallen.
Damit ist viel Bürokratie verbunden, denn alle 43.500 Wohnheimnutzer in NRW benötigen zum Jahresanfang Verträge über Miete Betreuungsleistungen. In Wohngruppen wie der von Alex in Bochum stellt das die Leitung vor Herausforderungen: Neben dem eigenen Zimmer nutzen alle gemeinsam Esszimmer, Aufenthaltsraum und Bad, Lebensmittel werden für die ganze Gruppe eingekauft. „Die Exceltabelle, in der wir das aufgeschlüsselt haben, ist beeindruckend“, sagt Jäger. Den Antrag auf Grundsicherung hätten viele aber noch nicht eingereicht. „Da muss man immer wieder nachhaken.“
Corinna genießt ihr Leben im eigenen Apartment
Klare Verhältnisse herrschen hingegen bei Corinna – obwohl das Schild an der Wohnungstür anderes verspricht: „Chaotisch mit Corinna“. Nach dem Klingeln öffnet sich die Tür automatisch, die Rollstuhlfahrerin kann sie über ein Smart-Home-System per Knopfdruck mit dem Fuß bedienen. Auf die selbe Weise steuert die 48-Jährige das Licht in der kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung oder ruft um Hilfe, wenn sie trinken oder auf die Toilette gehen möchte. Die kommt im Apartmenthaus der Diakonie an der Elsa-Brändström-Straße im Bochumer Stadtteil Weitmar 24 Stunden am Tag.
16 Mieter mit Hilfebedarf leben dort seit 2001 so selbstständig, wie es ihnen möglich ist. Unterstützt werden sie von moderner Technologie und Pflegediensten. Ein Projekt, das die Vorgaben des BTHG, Behinderten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, vollständig umsetzt. Hier ändert sich durch das Gesetz nichts. Frank Tafertshofer, Sprecher des Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) betont jedoch: „Wir sind weit davon entfernt, so etwas flächendeckend zu haben.“ Außerdem traue sich nicht jeder so viel Eigenverantwortung zu. LWL-Sozialdezernent Matthias Münning versichert daher: „Niemand muss wegen der neuen Rechtslage seinen Lebensort verlassen. Das gilt auf Dauer.“
Corinna, die 2012 vom Wohnheim in die Wohnung gezogen ist, bereut ihre Entscheidung nicht. Ganz energisch tippt sie einmal mit dem linken Fuß auf, als Jäger sie fragt, ob es ihr im Apartment besser gefalle. Weil Corinna auch nicht sprechen kann, kommuniziert sie über eine Buchstabentafel auf dem Boden oder per Fußtippen: Einmal heißt „ja“, zweimal „nein“.
Jede Menge bürokratische Herausforderungen im Wohnheim
An der Wasserstraße kommen die Bewohner inzwischen nach und nach von der Arbeit in der Behindertenwerkstatt wieder. Alex Wohngruppe trifft sich im Esszimmer zu einem Nachmittagssnack. Mittagessen gab es bereits in der Werkstatt. Das zahlt noch pauschal der LWL, ab Januar muss jede Mahlzeit einzeln abgerechnet und von der Grundsicherung bezahlt werden. „Auch das wird eine Herausforderung“, sagt Jäger.
Gleiches gilt für die zahllosen Fachleistungen, die im Laufe jedes Tages in dem Wohnheim anfallen: Wäsche waschen, Hilfe beim Toilettengang, mal eben den Rollstuhl von der Küche ins Zimmer schieben – „theoretisch müssen wir das alles erfassen“. Noch schwieriger wird es an anderer Stelle, wie sich eine Etage weiter unten zeigt. Im großen Gemeinschaftsraum treffen sich Bewohner zu Gruppenaktivitäten. Basteln, Handarbeiten, der Besuch des Therapiehunds: „Das für jeden einzeln abzurechnen ist kaum möglich“, sagt Jäger.
Münning beruhigt, der LWL sei weiter an eine unkomplizierten Zusammenarbeit interessiert. In welcher Form gemeinsame Aktivitäten und Ausflüge mit der Gruppe künftig möglich sein werden, bleibt jedoch offen. Womit Alex die freien Flächen an seiner Wand füllen wird, bleibt ungewiss.