Bochum. Worauf muss man sich als Pflegeeltern gefasst machen? Auf Gerichtsverhandlungen, Ungewissheit – und viel Freude. Erfahrene Eltern erzählen.

Beim Frühstück kippten sie die Milch noch in den Kaffee, nach dem Mittagessen in die Babyflasche. Plötzlich hatten Julia (39) und Marco (41) wieder einen Säugling im Haus. Zwar erstmal nur vorübergehend. Nur darauf vorbereitet waren die Bochumer überhaupt nicht – sie hatten kein Gitterbettchen, keinen Schlafsack, keinen Schnuller. „Wir hatten uns ein Pflegekind im Kita-Alter vorgestellt.“

Aber es ist eben so eine Sache mit Erwartung und Realität. Erwartet hatten Julia und Marco nach ihren beiden Söhnen (8, 11) noch ein fremdes Kind großzuziehen, das schon aus dem Gröbsten raus ist. In der Realität aber verstecken sich verzweifelte Frauen aus Italien in Deutschland – in der letzten Schwangerschaftswoche. Lassen ihr Kind dann im für sie völlig unbekannten Münster zur Welt kommen, und sind folglich so überfordert, dass sie ihrem Baby sogar das falsche Milchpulver kaufen.

Kommt die Realität so, bekommen potenzielle Pflegeeltern wie Julia und Marco von den Pflegekinder-Vermittlern Anrufe wie diesen: „Könnt ihr auch schnell ein Kind aufnehmen, so in zwei, drei Stunden?“

Und dann war die Familie eben um einen Kopf größer, um den der kleinen Mariam.

Schonungslose Realität

So extrem ist die Realität nur in Episoden. Aber chaotisch sind sie oft, die Geschichten hinter einer Pflegefamilie. Max (28) und Kevin (29) ahnen das schon. Pflegeeltern werden wollen sie trotzdem, „auch weil das mit der Adoption als gleichgeschlechtliches Paar unglaublich schwierig ist“.

„Wir haben uns bereits viele Gedanken gemacht und wollen ganz sicher ein gemeinsames Kind“, sagen die beiden. Um ganz genau zu wissen, was sie erwartet, nehmen sie heute am Familientag von Plan B teil. Der Bochumer Verein nennt sich selbst „interkulturelle Kinder- und Jugendhilfe“, stellt Personal für Kitas, Erziehungshilfe oder Pflegefamilien. Auf dem Familientag sollen sich eingeübte Pflegeeltern mit Anwärtern über Erfahrungen und Erwartungen austauschen.

Vor einem Jahr ist die Familie noch mal gewachsen: Iknur (li.) mit   Sohn Ahmetal, ihrem Mann Ugur, Tochter Talia und Pflegekind Eda.
Vor einem Jahr ist die Familie noch mal gewachsen: Iknur (li.) mit Sohn Ahmetal, ihrem Mann Ugur, Tochter Talia und Pflegekind Eda. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die Stimmung steht dem Thema wie angegossen: familiär und chaotisch. Zwischen Brezeln und Butter, Falafel und Hummus wird im Gewusel aber kein Blatt vor den Mund genommen. „Du lebst immer mit Angst, fragst dich immer, ob sie irgendwann als Jugendliche doch zu ihren leiblichen Eltern möchte“, erzählt Ugur (37), der mit seiner Frau Iknur (34) seit einem Jahr Verantwortung für die kleine Eda (3) übernimmt.

„Mein Schwiegervater war mein Held“, sagt Iknur. Deshalb stand für die Bochumerin mit türkischen Wurzeln immer fest, nicht nur die Heldin für ihre eigenen zwei Kinder (15, 10) zu sein – sondern irgendwann auch für ein fremdes.

Erst sollte Eda nur zeitweise bei ihrer neuen Familie bleiben. Schnell nannte sie Iknur „Mama“, Ugur „Papa“. Aber dann setzte sich die leibliche Mutter vor dem Familiengericht zur Wehr – keine Seltenheit, wenn das Jugendamt es für das Beste hält, ein Kind erst mal woanders leben zu lassen. „Zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung ging es uns wirklich schlecht“, sagt Iknur. „Man braucht starke Nerven, um so etwas durchzustehen“, sagt ihr Mann.

Zwei leibliche Kinder, drei Pflegekinder

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Das Gericht entschied am Ende zugunsten der Pflegefamilie. Jetzt hat Eda nur noch alle zwei Monate „Besuchskontakt“, sieht ihre leibliche Mutter dann in Begleitung des Plan-B-Teams. „Nach diesen Tagen geht es ihr leider immer richtig mies“, sagt Iknur.

Heute ist Eda fröhlich. Als sich die zukünftigen und erfahrenen Eltern im Stuhlkreis austauschen, manch eine Miene sich verzieht angesichts der abwesenden Beschönigung, kommt sie in den Raum getanzt und brüllt wie die Schneeleopardin – zu der sie von einer Plan-B-Praktikantin geschminkt wurde. „Roaaaar!“

Alle strahlen jetzt wieder.

“Es schreckt nicht ab, all das zu hören“

Max (l.) und Kevin „wollen ganz sicher ein gemeinsames Kind“.
Max (l.) und Kevin „wollen ganz sicher ein gemeinsames Kind“. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Ein Kind sei den ganzen Trubel doch wert, finden die zukünftigen Pflegeeltern Max und Kevin. „Es schreckt auch nicht ab, all das zu hören“, sagen sie entschlossen. „Es tut eher gut, vorbereitet zu werden mit solchen Geschichten.“ Nur dauerhaft in der Bereitschaftspflege zu sein, also sich immer wieder wieder von vorne nur vorübergehend um ein Kind zu kümmern, das kann sich das Ehepaar nicht vorstellen. „Das würden wir nicht schaffen. Aber großen Respekt für die, die es können.“

Also doppelten Respekt für Janine – perfekt geschminkt, Stöckelschuhe, Frohnatur. Ihre eigene Mutter sagt von ihr, sie habe schon mit vier Jahren andere Kinder gewickelt. Heute, mit 37, sitzt sie am Tisch mit ihrer eigenen „Herde“ blonder Kinder – zwei eigene, drei vorübergehende. „Ich wollte immer Erzieherin werden, aber die unbezahlte Ausbildung hat mich abgeschreckt“, sagt Janine – kaum vernehmlich vor lauter lautem Messerklirren der wild speisenden Herde.

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Ironischerweise ist die 37-jährige jetzt so etwas wie eine unbezahlte Vollzeiterzieherin, die Aufwandsentschädigung für ihr Pflegeeltern-Dasein abgesehen. Immer wieder nimmt sie Kinder auf, die Plan B versucht zu vermitteln – mal eine Woche, mal zweieinhalb Monate. Warum? „Na, man tut was Gutes.“ Und Anerkennung, die bekomme man auch zu genüge, wenn man mit fünf Kindern lockerleicht durchs Leben ziehe. „Alles eine Frage der Organisation.“

Aber auch Janine hat die Hoffnung, dass sie bald dauerhaft einem Kind ein neues Zuhause geben kann. „Nur dauert der Prozess meist sehr lange“, sagt sie. „Bis dahin kann ich ja meine Kraft vielen anderen Kindern widmen.“ Und das ständige Abschiednehmen? Da lerne man mit umzugehen.

Suchbegriff: Vaterschaftsrecht in Italien

Die Bochumer Julia und Marco können sich das schlecht vorstellen. Seit sie Mariann, die kleine Tochter der verzweifelten Italienerin, in Sturzaktion aufgenommen haben, ist sie schnell Teil der Familie geworden. Ihr größter Sohn gibt ihr ständig Küsschen findet sie „tooooll!!“. „Dabei sind noch so viele Fragen offen“, sagt Julia.

Grundvoraussetzung: „Ein großes Herz!“

Kurzinterview mit Gorden Stelmaszyk, Plan B, Bereichsleiter Vermittlung Pflegefamilien.

Was sind die ersten Schritte auf dem Weg zur Pflegefamilie?
Gorden Stelmaszyk:
Zunächst laden wir interessierte Familien zu uns ein und versuchen sie kennenzulernen: Wie ist die Familiensituation? Stellt sich die Familie ein Mädchen oder Jungen vor, ein Kind mit Migrationshintergrund oder ohne? Wenn sie nach dem Gespräch noch mit uns arbeiten möchten – was Dreiviertel der Interessierten tun – müssen sie einige Formalien erfüllen: Unbedenklichkeitsbescheinigung, Führungs- und Gesundheitszeugnis.

Was sollte man unbedingt mitbringen?
Ein großes Herz! Und die Klarheit darüber, dass alle Kinder ihre eigene Geschichte mitbringen – wie jung sie auch sind. Pflegeeltern sollten darauf vorbereitet sein, dass das Kind vielleicht erst mal zurückgezogen ist oder vielleicht sprachlich noch nicht so weit entwickelt ist.

Wann kommt es zu Konflikten mit den leiblichen Eltern?
Wenn die Eltern einverstanden sind, dass sie und ihr Kind Hilfe brauchen, unterschreiben sie einen Antrag auf Jugendhilfe. Dann wirken sie mit. Das Familiengericht wird nur dann eingeschaltet, wenn die Kinder gegen den Willen der Eltern aus den Familien genommen werden. Pflegeeltern und leibliche Eltern begegnen sich aber natürlich nie vor Gericht.

Kommt es dann oft vor, dass eine Pflege auf Zeit zu einer Dauerpflege wird?
Man muss ganz klar sagen: Bereitschaftspflege bedeutet in der Regel, dass das Kind irgendwann wieder zurückgeht zu den leiblichen Eltern. Dieser Fakt erreicht aber die Pflegeeltern manchmal nicht mehr, weil sie so emotional engagiert sind.

Nicht mal, ob die Kleine ihr Leben wirklich als Mariam bestreiten wird, wissen die Interimseltern aktuell. Zwar ist es der Name, der im Untersuchungsheftchen steht. Eine Geburtsurkunde gibt es aber noch nicht, mit zwei Monaten ist die Kleine noch offiziell namenlos. „Die leibliche Mutter hat das Namensrecht.“

Und was aus der Mutter wird, wisse aktuell auch noch niemand. Will sie zurück nach Italien? Mit Kind? Ohne Kind? Wird der Mann nach Deutschland kommen und Ansprüche stellen? „Plötzlich spielt man viele Szenarien im Kopf durch – und googelt ‚Vaterschaftsrecht in Italien‘“, sagt Marco.

Sicher aber ist: Zwischen Frühstück und Mittagessen würden sich Julia und Marco noch mal genauso entscheiden. Auch wenn sie eigentlich keine Windeln mehr auf ihre Einkaufszettel schreiben wollten.

Dies ist ein Artikel aus der digitalen Sonntagszeitung.