Duisburg. . Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor kämpft mit einem Schulprojekt gegen Judenfeindlichkeit unter muslimischen Jugendlichen.
„Was macht dich aus? Wie würdest du dich beschreiben?“, will Lamya Kaddor von ihren Schülern wissen. Stille in der bis eben noch unruhigen Klasse. „Wie meinen Sie das?“, fragt schließlich ein Junge. „Na, wenn ich dich frage, wer du bist, was sagst du dann?“ Er überlegt: „Hm, ich bin 16 Jahre, wohne in Duisburg, habe schwarze Haare, bin islamisch und kurdischer Herkunft, ich glaube an Gott, spiele gerne Fußball und Playstation.“
Ein anderer meldet sich: „Ich heiße M., bin 18 Jahre alt, meine Eltern sind Türken, ich bin in Dortmund geboren, habe vier Schwestern, die verwöhnen mich alle. Was mich ausmacht? Ich gehe zur Schule und habe ein Auto auf Achtzehn-Zoll-Rädern mit Schiebdach.“ Es wird wieder unruhig. „Was mich ausmacht, ist mein Schokoticket“, ruft einer. Alle lachen.
Problem der Identität bei Jugendlichen
Es ist 14.30 Uhr, wir sind in Duisburg-Marxloh am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium, hier haben rund 85 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor zielt mit ihrer Frage auf das Problem der Identität.
Jugendliche in der Pubertät sind auf der Suche nach einem positiven Selbstbild, in dieser Phase sind sie anfällig dafür, aus einer Gruppe heraus andere abzuwerten. Wer aber stark ist, wer eine eigene Meinung hat und ein gefestigtes Bild von sich selbst, muss nicht auf andere herabsehen.
Antisemitismus kommt oft subtil daher und platt
20 Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse nehmen Teil an diesem besonderen Projektkurs. Es geht darum, andere Kulturen und Religionen kennenzulernen und zu achten, vor allem die jüdische. „Extreme out – Empowerment statt Antisemitismus“ lautet der offizielle Titel des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderten Projekts.
Ziel ist es, muslimische Jugendliche gezielt zu stärken und Vorurteile abzubauen. „Es gibt unter vielen muslimischen Jugendlichen einen latenten Antisemitismus“, erzählt Kaddor später. „Das ist wenig reflektiert oder ideologisch begründet. Oft kommt er subtil daher und platt.“
Denkfehler und Vorurteile
Klischees und Vorurteile gegenüber Juden seien in muslimischen Milieus tief verankert, obwohl es kaum reale Kontakte zu Juden gebe. An dem Gymnasium weiß sie nur von einem einzigen jüdischen Schüler, sagt Kaddor. Und in ganz Marxloh dürften es ebenfalls nicht viele sein. Mit den Jugendlichen müsse man intensiv gegen diese tief verwurzelten Vorurteile anarbeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Judentum und Islam deutlich machen. Je früher, desto besser.
Lamya Kaddor schwimmt durch den turbulenten Unterricht wie ein starkes Boot auf unruhiger See. Alle Schüler sind lebhaft bei der Sache, die Diskussion wird heftiger. Es geht um „Ungläubige“, um Juden, Christen und Atheisten, die nicht an Gott glauben. Die haben es leichter, meint eine Schülerin, „die müssen sich nicht an Regeln halten“.
„Haben auch Atheisten die Möglichkeit, in den Himmel zu kommen?“
Kaddor greift ein: „Glaubt ihr, Atheisten hätten keine Werte, keine Moral? Dafür braucht man keinen Gott.“ Eine Schülerin, die einzige mit einem Kopftuch in der Klasse, ruft: „Dann bin ich ab jetzt auch Atheistin, dann kann ich Alkohol trinken und alles machen was ich will.“ Kaddor wendet ein: „Euer Denkfehler ist, dass ihr meint, nur Muslime kommen ins Paradies.“ Die Schülerin: „Das stimmt doch, oder?“
Ein Schüler hakt nach: „Haben auch Atheisten die Möglichkeit, in den Himmel zu kommen?“ Kaddor antwortet klug: „Das kann nur Gott entscheiden. Auch Atheisten tun gute Dinge.“
Koran mit Tora und Bibel verglichen
Ein Mädchen überlegt: „Muslime verstecken sich oft hinter ihrem Glauben, sie sagen, sie kommen auf jeden Fall in den Himmel.“ Dann werden Koran-Suren interpretiert und mit der jüdischen Tora und der Bibel verglichen. Das Mädchen mit dem Kopftuch fragt verwirrt: „Was in der Bibel steht, ist also auch richtig?“
Nur vordergründig geht es an diesem Tag um Judenfeindlichkeit. Was Glaube ist und „die richtige“ Religion fächert sich im Laufe der 90 Minuten immer weiter auf. Es wird deutlich, dass es nicht nur den einen wahren Glauben gibt.
Es wird deutlich, dass es nicht nur den einen wahren Glauben gibt
Antisemitismus in muslimischen Milieus sei kein neues Phänomen, sagt Kaddor nach der Stunde. Doch wegen der verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen rückt dies nun verstärkt in den Blick. Was besonders fatal sei: Aus nahöstlicher Perspektive sind die Juden nicht Opfer, sondern Täter.
Juden werden oft als Besatzer wahrgenommen
„Mit Blick auf Israel und die Palästinenser werden Juden vor allem als Besatzer wahrgenommen und nicht als Opfer der Nationalsozialisten, wie wir das in Deutschland überwiegend sehen.“ Und wenn man jemanden als Täter definiere, dann erscheine es legitim, sich gegen ihn zu wehren. Daher auch der aktuelle Protest gegen Israel, daher auch die Flaggenverbrennungen, erklärt Kaddor.
Diese Tätersicht auf Juden will das Projekt aufbrechen. In der folgenden Woche fährt der Kurs zum NS-Dokumentationszentrum nach Köln, wo eine Sonderausstellung an die Vernichtung der Juden erinnert. Lamya Kaddor sagt: „Die Schüler sollen verstehen lernen, dass Sie auch ein Teil der deutschen Geschichte sind.“
>>> Antisemitismus äußert sich zunehmen öffentlich
Judenhass äußert sich nach Ansicht der Berliner Antisemitismus-Expertin Juliane Wetzel zunehmend öffentlich. Der unterschwellige, latent vorhandene Antisemitismus breche sich heutzutage eher Bahn, sagte die Historikerin vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin am Freitag im RBB-Inforadio. Wetzel erinnerte zugleich daran, dass etwa 90 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland von Rechtsextremisten begangen werden und nicht von Muslimen.