Essen. Der Bundestagswahlkampf wird von Taktierern geführt. Der ehrliche Diskurs, wie Deutschlands Zukunft zu managen ist, bleibt tabu. Die Politik hat Angst vor dem Wähler. Damit er keine andere Partei wählt, verschonen ihn alle mit Zumutungen. Gegenüber den Kindern ist das rücksichtslos und feige.

Mitten im Ruhrgebiet in einem CDU-Ortsverband in diesen Tagen. Der Redner, ranghoher Kommunalpolitiker, spricht Tacheles. Nach der Bundestagswahl müssen her: Die große Rentenreform. Die große Gesundheitsreform. Die Debatte über die Staatsschulden. Auch: Sind die Milliarden für Opel wirklich nötig? Der Redner erntet beifälliges Murmeln. Laut wagt keiner zu klatschen.

Denn solche Sätze fallen meist sehr intern. Draußen, in den Hallen, auf den Plätzen, in den TV-Studios geht es um Ullalas Spanien-Ausflug mit Chauffeur oder Merkels Ackermann-Dinner oder warum das dicke Geld für die Banken gegeben wird. Hier und da gibt es einen Einblick ins Privatleben, wenn die Kanzlerin erzählt, sie schreibe Freitags ihrem Mann den Einkaufszettel. Wie schön!

Dieser Bundestagswahlkampf wird von Taktierern geführt. Der ehrliche Diskurs, wie Deutschlands Zukunft zu managen ist, bleibt tabu.

Zumutungen können Bürger verärgern

Ob Steinbrücks versteckte Mahnungen oder zu Guttenbergs Thesen. Ob die Analyse der Bundesbank über eine Rente mit 69 oder die Frage nach der Richtigkeit der Rentengarantie oder der gigantischen Staatsverschuldung. Alles Brisante wird dem Wahlvolk entweder weichgespült serviert oder eben gar nicht. Die Politik hat nackte Angst vor dem Bürger. Zumutungen könnten ihn verärgern. Dann wählt er die anderen oder links oder er bleibt zu Hause.

Kann dieser Wahlkampf eine Politik für die Zukunft formen? Eine für die Zeit nach der nächsten Wahlperiode? Eine für die nächsten Generationen? Nachhaltigkeit zumindest hat so keine Chance.

Wie am Beispiel der Lebensarbeitszeit klar wird. Die „Rente mit 67”, erfunden von Franz Müntefering und möglicherweise die größte seiner Taten, wird behutsam im Jahr 2012 Gesetz. Wer dann 65 ist, wird in einem ersten Schritt einen Monat länger machen müssen. Die Reform wird 2029 für den Geburtsjahrgang 1964 abgeschlossen sein. Die Rentner von 2029 werden tatsächlich zwei Jahre mehr als die heutigen Ruheständler arbeiten müssen, weil dann zwei Aktive vom Erlös ihrer Arbeit einen Pensionär bezahlen müssen. Das ist schwer.

2029 aber sind die Umstände absehbar ganz andere. Arbeit und Arbeitsplätze werden sich bis dahin verändern. Medizinisch wird es enormen Fortschritt gegeben haben. Die Menschen werden die Chance auf ein sehr langes Leben haben - auf 90 Jahre und mehr und damit 30 Jahre über durchschnittliche Lebenszeit von 1957 hinaus, als Adenauer die Rente heutigen Zuschnitts erfand. Außerdem: Nachwuchs wird, weil die Babyboomer keine Kinder gekriegt haben, Mangelware sein. Das betrifft dann den Arbeitsmarkt (man wird Leute suchen, die die Jobs tun, auch die Pflegejobs) wie auch die Finanzierung der Renten (irgendjemand muss sie durch seine Arbeit bezahlen).

Infarkt-Ursachen reduzieren

Nur wenige - Friedrich Merz etwa, der den Bundestag verlässt, oder die Spitze der Bundesbank - sagen dies den Menschen von heute offen ins Gesicht. Nur wenige argumentieren, dass die heutige Generation auch Entscheidungspflicht und -verantwortung für ihre Kinder und ihre Enkel hat. Keiner widerlegt das bizarre Argument der Gegner der Renten mit 67 oder 69, es gebe gar keine Jobs, mit den Worten: „Ihr redet von 2010. Ihr müsst aber an 2030 denken”, wo dann nur gekürzte Renten noch die Alternative zur Mehrarbeit wären. Und keiner spricht: „Lieber 60-jähriger von heute, Du bist es nicht, der länger arbeiten muss”. Würde es jemand sagen, hätte die Erregungsgesellschaft eine Infarkt-Ursache weniger.

Die vermeintlich rücksichtsvolle Kuschelpolitik des Jahres 2010, die Abwrackprämien auf Pump finanziert, unternehmerische Sanierungsfälle gegen alle Marktmechanismen und Kundenwünsche am Leben erhält, unerfüllbare Rentengarantien gibt, mit unmöglichen Steuersenkungen lockt und Wahrheiten lieber verschweigt statt sie zu benennen, ist in Wirklichkeit rücksichtslos gegenüber denjenigen, die heute noch zur Schule gehen, die noch im Sandkasten sitzen oder noch gar nicht geboren sind. Die müssen nämlich, wenn die Weichen für die Zeit in der Mitte des Jahrhunderts falsch oder gar nicht gestellt werden, die Folgen tragen.

"Nur nicht provozieren"

Sie werden unsere dann mehr als zwei Billionen Euro hohen Staatsschulden abzahlen, dramatisch hohe Sozialbeiträge leisten und überdies länger arbeiten müssen. Sie werden keine andere Wahl haben, als die vergiftete Erbschaft anzunehmen - ob wir heute darüber reden wollen oder nicht.

Sie werden deshalb Wohlstand einbüßen oder, wie in den letzten Jahren immer wieder passiert, auswandern. Und das alles, weil die heute Arbeitenden zu bequem sind, über die eigene Lebensarbeitszeit hinaus zu denken und unsere Politiker zu feige, den Menschen die Furcht zu nehmen und einen zukunftsgerichteten, erklärenden Wahlkampf zu führen, der mutige Entscheidungen erst möglich macht. Man bleibt lieber bei einfachen Schlagworten und beim Kurs, der heißt: Nur nicht provozieren.