Essen. Er fordert Reformen und mehr Kompetenzen für Europa. Mit dem SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Martin Schulz, sprach Walter Bau - über sinkende Wahlbeteiligung und wie man sie bekämpfen kann.

Herr Schulz, seit der ersten Europawahl 1979 sinkt die Wahlbeteiligung. Nicht ausgeschlossen, dass sie diesmal unter 40 Prozent sinkt. Was läuft da falsch?

Martin Schulz: Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Unter demokratie-politischen Gesichtspunkten ist der Trend höchst bedenklich. Politik ist heute schwer vermittelbar. Es fällt allen Politikern schwer, komplexe Themen den Leuten nahe zu bringen.

Das gilt aber für alle politischen Ebenen.

Bei der Europawahl fehlt die personalpolitische Komponente. Die Menschen wählen Parteien, auch Direktkandidaten, aber keinen Regierungschef, keine Ministerriege. Auch nicht indirekt. Die faktische Regierung der EU ist die Kommission, und deren Zusammensetzung kungeln die Regierungschefs der 27 EU-Staaten unter sich aus. Die Menschen wissen also nicht so recht, für wen sie ihre Stimme eigentlich abgeben.

Was muss außer der Personalisierung geschehen?

Die nationalen Regierungen müssen endlich aufhören, Europa als ihr Monopol zu betrachten. Europapolitik wird oft erst dann wahrgenommen, wenn die Regierungschefs nach Brüssel reisen und absegnen, was dort längst entschieden wurde. Sie tun dann so, als würden sie alles entscheiden, was gar nicht der Fall ist.

Glauben Sie wirklich, dass Berlin, Paris oder London da zurückstecken?

Die Regierungen haben ja schon Kompetenzen abgegeben. Aber jetzt muss der entscheidende Schritt folgen, nämlich eine echte Gewaltenteilung, mit Parlament, demokratisch legitimierter Regierung und Opposition.

Machen die Regierungen Europa zum Sündenbock?

Ja. Europa ist der Sündenbock. Die Regierungschefs heften sich die Erfolge ans Revers, die Misserfolge werden auf Brüssel geschoben. So läuft das Spielchen seit Jahren.

Ist die EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten nicht längst zu groß und unbeweglich für solch einen Schritt?

Nein. Mit den Problemen etwa beim Klimaschutz oder auch in der derzeitigen Finanzkrise wären einzelne Staaten restlos überfordert. Das bekommt man nur noch gemeinsam in den Griff. Wenn wir diese Dinge auf Dauer beherrschen wollen, ist eine europaweite Strategie unerlässlich.

Auch um den Preis, dass kleine Staaten, wie Irland durch die Ablehnung des Lissabon-Vertrags, die Europäische Union blockieren können?

Vorsicht, der Wind hat sich gedreht. In Irland ist der Wirtschaftsboom vorbei, die Finanzkrise hat das Land mit voller Wucht getroffen. Die Mehrheit der Iren hat inzwischen eingesehen, dass sie nicht auf einer Insel der Seligen leben und sich vom Rest der Welt abkoppeln können. Die Zustimmung zum EU-Vertrag ist dort deutlich gewachsen. Oder nehmen Sie das Beispiel Island. Dort hat man viel Geld verdient mit riskanter Finanz-Jongliererei. Dann kamen die Krise und der große Katzenjammer. Jetzt drängt Island in die EU. So schlecht kann unser Modell Europa, bei allen Vorbehalten, also gar nicht sein.