Essen. Jetzt sollen es die Hühner richten. Nacktgerupft, unter Folie verschweißt - und sechs Meter groß. Was wie eine Installation moderner Kunst anmutet, ist Teil einer Kampagne, mit der das EU-Parlament die 375 Millionen Wahlberechtigten in der EU zur Teilnahme an der Europawahl matovieren will.
Ob die EU-Schau, die derzeit durch die Mitgliedsstaaten tourt, tatsächlich das Interesse an dem Wahlgang fördert, ist zweifelhaft. 30 Jahre nach der ersten Europawahl droht der Europäischen Union bei der Wahl zwischen dem 4. und 7. Juni ein Negativrekord bei der Beteiligung.
Die Botschaft der überdimensionalen Plastik-Hühner lautet: Verbraucherschutz ist wichtig und Brüssel kümmert sich darum. Andere Teile der Ausstellung behandeln Themen wie Zuwanderung oder Energieversorgung. Ein überdimensionales Warndreieck symbolisiert das Motto "Freiheit und Sicherheit verbinden". Ein Furcht einflößender Löwe neben einer kleinen Katze steht für die Finanzmärkte, die gebändigt werden müssten. Alles gut gemeint - aber auch erfolgversprechend? "Es ist ein immenser Schritt, dass die Europawahl überhaupt beworben wird", findet Lutz Meyer von der Agentur Scholz & Friends, die vom EU-Parlament mit der Kampagne betraut wurde.
Wachsender Einfluss
Es ist paradox. Seit der ersten Wahl zum Europäischen Parlament 1979 sind die Kompetenzen der Brüsseler Abgeordneten stetig gewachsen, die EU übt immer stärkeren Einfluss auf die nationale Politik der Mitgliedsländer aus. Gleichzeitig hat das Interesse der Menschen an "Europa" stetig abgenommen. Lag die Wahlbeteiligung 1979 noch bei 65,7 Prozent, so sank sie bis 2004 auf magere 43 Prozent. Nicht ausgeschlossen, dass diesmal weniger als 40 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gehen. Dies wäre ein Debakel für das EU-Parlament, das ohnehin permanent mit Legitimationsproblemen zu kämpfen hat.
Wo liegen die Gründe für dieses ausgeprägte Desinteresse vieler Bürger? Oder, wie es die Politikwissenschaftler und Autoren Michael Ley und Klaus Lohrmann ("Projekt Europa") formulieren: "Warum ist Europa nicht sexy?"
Die Gründe sind vielschichtig. Zu einen hat es Brüssel nie geschafft, das Bild von der EU als "diffuses Monstergebilde" (Peter Scholl-Latour) zu korrigieren. Europa - das steht für viele als Synonym für Bürokratie, Geldverschwendung, Ineffizienz. Brüssel - ein Moloch der alles an sich reißt, von der Regelung des Salzgehalts im Brot bis Chemikalienverordnung. Das Europäische Parlament - eine Ansammlung von Spesenrittern, die den Steuerzahler Milliarden kosten. Die EU-Kommission - ein notorisch zerstrittener Debattierclub, dessen Mitglieder sich gegenseitig blockieren. So sehen viele Wähler "ihr" Europa. Annehmlichkeiten wie der Wegfall der Grenzkontrollen werden dagegen schnell als normal verbucht.
Informationsdefizit
Hans-Gert Pöttering, seit 1979 Mitglied für die CDU in Brüssel und heute Präsident des Parlaments, macht ein "Informationsdefizit" für das einseitige Bild verantwortlich. Er beklagt "das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit". Bei den Medien vermisst der Christdemokrat die "europäische Perspektive". Allerdings: Im gleichen Atemzug verkündet Pöttering, die Europawahl am 7. Juni sei im Grunde "Auftaktwahl und damit Testwahl" für die Bundestagswahl im September, und die sei schließlich der "Höhepunkt im Wahlkalender". Die EU also doch nur ein Stiefkind nationaler Politik?
Was die EU wirklich braucht, ist eine umfassende Reform. Sie braucht klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, kein intransparentes Nebeneinander von Parlament, Kommission und Ministerrat. Sie braucht eine gewählte Regierung und eine Opposition statt einer aufgeblähten Kommission, die nach Proporz zusammengestellt ist. Sie braucht offenen politischen Diskurs statt nächtlicher Kungelrunden der nationalen Regierungschefs . Und: Ein kaltes "Europa der Ergebnisse" reicht nicht; was fehlt, ist ein Europa, mit dem sich die Menschen identifizieren, das nicht nur ihren Kopf, sondern ihr Gefühl erreicht. Mit gerupften Hühnern allein wird das nicht zu erreichen sein.