Duisburg. Ungeeignet für einen Prozess: Das Loveparade-Gutachten des Panikforschers Keith Still wurde von der Kammer in sämtliche Bestandteile zerlegt.
Das Vorwort war Ulf-Thomas Bender ein spürbares Anliegen. „Diese Tragödie hat uns alle getroffen, sie berührt uns alle, auch mich persönlich und die mit der Sache befassten Richterinnen und Richter“, diktierte der Duisburger Landgerichtspräsident den Journalisten gestern Mittag in die Blöcke. „Wir alle hegen die Erwartung, dass die Loveparade-Katastrophe aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“, versicherte Bender. Daraus wird allerdings erst einmal nichts: 21 Tote und mehr als 500 Verletzte – aber einen Prozess wird es nicht geben. Warum nicht?
In einem 460 Seiten dicken Beschluss hat die 5. Große Strafkammer erklärt, warum sie „keinen hinreichenden Tatverdacht“ gegen die zehn Beschuldigten von Stadt und Veranstalter sieht. Bender fasste die Begründung in einer Pressekonferenz zusammen und stellte vorab klar: „Es geht um die Feststellung individueller strafrechtlicher Schuld, nicht um sonstige Versäumnisse und Fehler oder um eine allgemeine Aufklärung des Geschehens.“ Loveparade
"Schwerwiegende methodische und inhaltliche Mängel"
Das Gericht ermittelt nicht selbst, sondern bewertet, was die Anklage ihm vorlegt. Und das ist das umstrittene Gutachten des britischen Panikforschers Keith Still. Es wurde von der Kammer samt seiner Nachbesserungen in sämtliche Bestandteile zerlegt. Bender: „Es leidet an schwerwiegenden methodischen und inhaltlichen Mängeln.“ Laut Kammer sind es unter anderem diese:
- Still ist widersprüchlich in seinen Zahlenangaben, verwendet sogar Zahlen des Veranstalters, von denen er selber behauptet, sie seien manipuliert.
- Still hat lediglich eine „erste grobe Risikoanalyse aus Sicht des Planers vorgenommen“. Damit kann man den Beweis nicht führen, dass Fehler in Planung oder Genehmigung die Todesfälle und Verletzungen verursacht hätten.
- Still hat sich mit den Regeln für deutsche Veranstaltungsplanung nicht beschäftigt.
- Still mangelt es an deutschen Rechtskenntnissen. Vorhersehbarkeit reicht nicht für eine Verurteilung, ein Planungsfehler muss stattdessen zu einer konkreten Verletzung führen („Kausalität“).
- Still hat formale Bedingungen für ein Gutachten missachtet, sich zudem dem Risiko der Befangenheit ausgesetzt, indem er sich öffentlich unsachlich zum Unglück geäußert hat.
- Still hat vor allem die Auswahl der Tatsachen auf örtliche Gegebenheiten beschränkt. Sämtliche anderen Unglücksursachen, vor allem Handlungen am Tag selbst, bleiben unberücksichtigt.
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Ein Vorwurf, den Strafrechtler Henning Ernst Müller am Dienstag im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur aufgriff. Er warf der Staatsanwaltschaft einen mangelhaften Ermittlungsansatz vor. Sie habe sich auf Planungs- und Genehmigungsfehler versteift, den Fokus vom Geschehen am Unglückstag weggelenkt. „Nur zu argumentieren, dass Planungsfehler die Katastrophe verursacht haben, greift zu kurz“, kritisierte er. „Fehler sind auf allen Ebenen gemacht worden, dem muss in einer Anklage auch Rechnung getragen werden.“ Opferanwalt Julius Reiter hatte mehrfach gefragt: „Warum ist unter den Beschuldigten kein Polizist?“
Zweites Gutachten für mehr Klarheit
Für den Kölner Anwalt Björn Gercke, der einen Beschuldigten vertritt, kam das Aus für den Prozess „mit Ansage“. Er hatte die Mängel im Still-Gutachten früh aufgegriffen und immer wieder angeprangert. „Es stellt sich die Frage, ob die Staatsanwaltschaft nicht viel früher die Reißleine hätte ziehen müssen“, sagte er gestern auf Nachfrage. Das Gutachten sei oft repariert worden, aber es sei nicht zu heilen gewesen. „Ein frühzeitiges zweites Gutachten hätte gegebenenfalls mehr Klarheit gebracht.“
Die Staatsanwaltschaft hielt der Kammer vor, sie hätte sich bei Zweifeln an dem Gutachten „veranlasst sehen müssen, einen zweiten Gutachter zu beauftragen“. Der Gerichtspräsident beteuerte: Das darf das Gericht nicht.