Düsseldorf/Essen. . Die in letzter Minute abgesagte „Der Norden ist voll“-Kundgebung gegen Flüchtlinge schüttelt die Essener SPD durch. Ein Ortstermin bei den Genossen in Altenessen.

Thomas Kutschaty hätte sich für seinen Auftritt am Sonntagmorgen vermutlich eine andere Kulisse gewünscht. Hinter dem NRW-Justizminister hängt ein SPD-Banner, daneben ein Riesenschnuller, von der Decke baumeln bunte Girlanden und Luftballons. Zuletzt wurde hier im Awo-Club in Essen-Altenessen offenbar Karneval gefeiert. Nun sollen Aufklärungsarbeit und Abbitte geleistet werden.

Die SPD Altenessen, die 250 Mitglieder und neuerdings bundesweite Beachtung hat, ist zur Jahreshauptversammlung zusammengekommen. Er sei dafür allerdings nicht von der Ministerpräsidentin nach Essen entsandt worden, betont Kutschaty: „Der Termin steht immer in meinem Kalender.“ Kutschaty stammt aus Essen-Borbeck, er ist stellvertretender Chef des SPD-Unterbezirks. Für dieses Jahr sei er bei den Altenessener Genossen schon lange als Versammlungsleiter eingeplant gewesen, auch weil Vorstandswahlen anstehen.

Von allen Seiten hagelt es Kritik

Doch nun ist es alles andere als ein lokaler Routinetermin. Seit die drei Essener Ortsvereine Altenessen, Karnap und Vogelheim am Freitagabend unter dem Motto „Genug ist genug, Integration hat Grenzen, der Norden ist voll“ zu einem Demonstrationsmarsch gegen Flüchtlingsheime und sogar zu Straßenblockaden aufgerufen haben, hagelt es Kritik. Die SPD wird in die Nähe von Pegida gerückt, AfD und NPD springen auf das Thema. Plötzlich ist von „Fackelzug“ und Sitzblockade direkt vor Flüchtlingsheimen die Rede. Die sozialen Netzwerke rauschen, Politiker, Parteien und Kommentatoren aus ganz Deutschland melden sich zu Wort.

Auch interessant

Noch am Samstagabend, als sie eigentlich im Mönchengladbacher Stadion ihrer Borussia gegen Dortmund die Daumen drücken will, muss sich Parteichefin und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu Wort melden. In einer Mitteilung kritisiert sie schnell und klar die Protestaktion der eigenen Parteifreunde. Ihr Generalsekretär André Stinka nimmt sich des Falls an und eilt am Sonntagmorgen zum Krisentreffen nach Essen. Da ist die umstrittene Demo bereits abgesagt.

Ortsvereinsvorsitzender entschuldigt sich

Die Wucht der Debatte hat auch einen Profi wie Justizminister Kutschaty überrascht. „Ich habe noch nie erlebt, dass mein Handy-Akku an einem Tag leer war“, berichtet er. Auf die Frage, ob es großen Drucks aus Düsseldorf auf die örtliche SPD bedurft habe, um die Demo-Absage zu erreichen, meint er: „Es waren auch vor Ort alle sehr erschrocken, welche Entwicklung das Thema nahm.“ Man habe viele Gespräche geführt, aber allen sei schnell klar geworden, „dass wir uns nicht in die rechte Ecke stellen lassen dürfen“. Der Slogan „Der Norden ist voll“ wecke „gefährliche Assoziationen“.

Auch interessant

Der Altenessener Ortsvereinsvorsitzende Jürgen Garnitz wirkt zerknirscht. Er eröffnet die Jahreshauptversammlung mit einer Entschuldigungsrede. „Wir hatten eine Demo mit einem guten Gedanken und falscher Wortwahl geplant. Für diese Wortwahl möchte ich mich entschuldigen.“ Man leiste im Norden großartige Integrationsarbeit und wolle nur eine gerechte Verteilung der herkommenden Flüchtlinge erreichen. „Wir haben das Gefühl, dass das nicht so läuft.“

Gefühltes Ungleichgewicht

Die Stadt eröffnet zwar am 1. Februar eine Groß-Einrichtung für Flüchtlinge in Fischlaken, im grünen Süden Essens. Zudem wird ein Zeltdorf im wohlhabenden Burgaltendorf hochgezogen. Dennoch herrscht in den ehemaligen Arbeitervierteln des Nordens das Gefühl vor, die Verteilung von Asylbewerbern sei ungerecht. Die Vergangenheit hat eben gezeigt: Nach einer Weile ballen sich die Probleme eben doch wieder hier, wo die Mieten billig und die Hartz IV-Quote hoch ist.

Die SPD-Spitze will die Verantwortung für die entglittene Debatte beim neuen CDU-Oberbürgermeister Thomas Kufen abladen. Es sei seine Aufgabe, „die Interessen aller Stadtteile im Blick zu haben“, kritisierte SPD-General Stinka. Derweil trösteten sich die Altenessener Genossen im bunt dekorierten Awo-Club damit, mit dem verunglückten Demo-Aufruf zumindest „alle wachgerüttelt“ zu haben.