Essen. . Die wachsende Gewaltbereitschaft gegen Flüchtlinge und Asylbewerberheime bereitet den Behörden Sorgen. Täter kommen oft mitten aus der Gesellschaft.

Die Zahl der Brandstiftungen, Sachbeschädigungen und Schmierereien durch rechtsextreme Täter nimmt dramatisch zu. Der NRW-Verfassungsschutz spricht von 187 solcher Übergriffe im Jahr 2015. Im Jahr davor waren es 29.

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Das Vereinsheim an der Hervester Straße in Marl steht am 21.1.2016 frühmorgens in Flammen.
Von Randolf Leyk, Stephan Rathgeber, Verena Barton-Andrews

50 Feuerwehrmänner waren nötig, um am Donnerstag den Brand in einem zukünftigen Flüchtlingsheim in Marl unter Kontrolle zu bringen. Zuvor war das Gebäude mit einem Hakenkreuz besprüht worden.

Politikwissenschaftler: "Eine neue Art Lynchjustiz"

Im Zusammenhang mit den Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte spricht der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von einer „neuen Art Lynchjustiz“. Die Täter wollten ein Zeichen setzen, um mögliche Zuwanderer von einer Einreise abzuschrecken. Und: „Die Täter wollen die Flüchtlinge dafür bestrafen, dass sie ins Land gekommen sind und sie möglichst wieder vertreiben“, sagte Butterwegge unserer Redaktion.

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Neu an dem Phänomen sei, dass es so massenhaft auftritt und Anschläge oft von Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“ verübt würden, die keinen Kontakt zum Rechtsextremismus haben. NRW-Verfassungsschutzchef Burkhard Freier sagte: „Rechtsextremisten bereiten mit ihrer Hetze den Nährboden für solche Straftaten.“

Integrationsbeauftragte: „Die Hemmschwelle sinkt“

Die Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Cemile Giousouf, kritisierte die niedrige Aufklärungsquote. „Wenn Gewaltbereite sehen, dass sie Recht und Gesetz nicht fürchten müssen, dann führt das zu einem Nachahmungseffekt. Die Hemmschwelle sinkt“, sagte die Hagenerin unserer Redaktion.

Bisher, so die Landesregierung, wurden 70 Tatverdächtige ermittelt, die Anschläge auf Flüchtlingsheime verübt haben sollen. Laut NRW-Justizministerium gibt es keine aktuellen Zahlen zu Verurteilungen. Von den 187 Anschlägen waren 28 Gewaltdelikte (Körperverletzungen und Brandstiftung). In den meisten Fällen ging es um Sachbeschädigung und Propaganda. Fünf Menschen wurde im Jahr 2015 bei Angriffen auf Heime leicht verletzt.

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Islamvertreter sind in Sorge wegen der wachsenden Zahl von Angriffen auf Muslime nach den Vorfällen in der Silvesternacht. Der türkische Verband Ditib zählte seitdem 80 Anschläge auf Moscheen in Deutschland. Viele Muslime würden öffentlich beschimpft.

Brandstifter stammen oft aus der Mitte der Gesellschaft 

Früher waren hier die Fußballer der SG Marl zu Hause, bald schon sollten Asylsuchende einziehen in das Vereinsheim an der Hervester Straße. Doch daraus wird wohl erst einmal nichts werden. Denn Donnerstagmorgen schlagen hohe Flammen aus dem Gebäude. Mehr als sechs Stunden wütet das Feuer. Brandstiftung wird nicht ausgeschlossen. Wieder einmal.

Es wäre nur einer von vielen Anschlägen auf geplante oder bereits bewohnte Flüchtlingsheime in NRW. Anfang Januar etwa brechen Unbekannte einen Wohncontainer einer geplanten Flüchtlingsunterkunft auf, schütten brennbare Flüssigkeit aus und entzünden sie. Zum Glück erlischt der Brand von selbst.

Ermittler sehen keine organisierte Struktur hinter Anschlägen

Im westfälischen Borken geht es nicht so glimpflich aus. Ein dort gelegtes Feuer richtet am 10. Januar in einer gerade umgebauten Unterkunft einen Schaden von mindestens 20.000 Euro an. Und im sauerländischen Kirchhundem drehen Unbekannte eine Nacht später alle Wasserhähne in einer Flüchtlingsunterkunft auf.

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Eine organisierte Struktur können die Ermittler hinter den Angriffen nicht erkennen. Das stellt die Polizei vor ein Problem: Der Kreis der möglichen Verdächtigen ist extrem groß, man habe es mit der „ganzen Breite der Bevölkerung“ zu tun, heißt es bei den Ermittlungsbehörden. Die Täter stammten längst nicht nur aus der Gruppe der Rechtsextremisten, viele waren zuvor nie polizeilich in Erscheinung getreten. Das Bundeskriminalamt spricht von „emotionalisierten Einzeltätern“ ohne ideologische Anbindung an rechte Strukturen.

"Täter sehen sich als verkannte Helden"

Wer allerdings ein Hakenkreuz an die Mauer schmiert, bevor er ei­nen Brandsatz wirft, legt ein eindeutiges Bekenntnis ab. „Solche Taten geschehen in dem Glauben, die schweigende Masse zu vertreten“, sagt der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. „Die Täter glauben, Vollstrecker des sogenannten Volkswillens zu sein und sind überzeugt, das Richtige zu tun, sehen sich als verkannte Helden.“ Sie fantasierten von einer ethnisch homogenen Gesellschaft und seien der Ansicht, die Überfremdung müsse jetzt gestoppt werden. Ermutigt fühlten sich die Angreifer durch die zunehmende Hetze in sozialen Medien, durch Pegida-Parolen, durch die rechtspopulistische AfD und Pro-NRW.

Weshalb aber auch zuvor unbescholtene Bürger zu Tätern werden, kann sich Butterwegge nur mit Angst erklären. Angst vor dem sozialen Abstieg, davor, zu kurz zu kommen, vor den Fremden und Veränderung. „Angst vor den Flüchtlingen“ nannte auch jener Feuerwehrmann als Tatmotiv, der im Oktober des vergangenen Jahres in Altena den Dachstuhl eines benachbarten Hauses angezündet hatte, in dem kurz zuvor zwei syrische Familien eingezogen waren. Die Menschen konnten sich gottlob in Sicherheit bringen.

Hilfe für die Schwachen

„Die Ansicht, dass die Spaltung der Gesellschaft zunimmt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, ist ja nicht falsch“, sagt Butterwegge. Der Sozialstaat sei abgebaut worden, die Steuerpolitik begünstige Wohlhabende, prekäre Be­schäftigungsverhältnisse nähmen zu. „Plötzlich ist Geld da für die Belange der Asylbewerber – und für uns bleibt nichts übrig“, bringt er den schwelenden Unmut auf den Punkt. Doch statt sich an die Politik zu wenden, werden Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht. Die Politik müsse jetzt etwas für die sozial Schwachen tun, um der Stimmung entgegenzuwirken, in Wohnungen, Kitas und Schulen investieren.

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Die Hagener Bundestagsabgeordnete Cemile Giousouf (CDU) fordert mehr Polizeipräsenz vor Flüchtlingsheimen und zeitnahe Gerichtsverfahren gegen Tatverdächtige. Sie glaubt, dass auch die AfD zu dieser Entwicklung hin zu mehr Gewalt beitrage. „Die AfD entwickelt sich zu einer rein populistischen Partei. Sie bereitet den Weg für solche Gewalttaten“, sagte die Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dieser Zeitung. Pegida sei noch viel schlimmer. „Die rufen offen zur Gewalt auf.“ Die Hemmschwelle sinke ohnehin. Giousouf: „Erst ist es ,nur’ Sachbeschädigung, dann sind es Angriffe auf Menschen. Der Weg zu Morden wie in Solingen und Mölln ist dann nicht mehr weit.“

Dass Flüchtlingsheime in Zukunft permanent von Polizeikräften beschützt werden müssten, hält Butterwegge für möglich: „Ich fürchte das“, sagt er. „Aber dann ist das nicht mehr mein Land.“