Essen. . Jeder fünfte Deutsche hat einen Migrationshintergrund. Die Flüchtlinge dürften den Anteil erhöhen. Was bedeutet das für die Bevölkerungsentwicklung?

Die Entwicklung der Flüchtlingszahlen sorgt jüngst für ein Hickhack um Prognosen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière lehnt neue Vorhersagen ab. Die Zahl sei ohnehin nicht seriös abzuschätzen und würde womöglich Schlepper animieren, noch mehr Menschen nach Deutschland zu lotsen. Offiziell wird nach wie vor von 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr in Deutschland gesprochen; jüngste Schätzungen stellten gar 1,5 Millionen Flüchtlinge in Aussicht. So oder so ein Rekord. Vorausgesetzt, die meisten der Menschen würden ein Bleiberecht erhalten - wie wirkt sich das auf die Bevölkerungsentwicklung aus?

"Etwa jeder fünfte in Deutschland hat aktuell einen Migrationshintergrund", ist also nicht hier geboren oder hat mindestens einen Elternteil, der nach Deutschland zugewandert ist, erklärt Prof. Marcel Thum, Forscher an der TU Dresden und Projektleiter einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zu den "Auswirkungen des demografischen Wandels im Einwanderungsland Deutschland". Bisherige Prognosen sehen den Migrationshintergrund steigen von aktuell gut 20 auf 30 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2030. Falls der aktuell enorme Zulauf von Flüchtlingen über mehrere Jahre anhalten würde, würde dieser Anteil noch etwas höher ausfallen.

Hohe Flüchtlingszahlen dürften Schrumpfen der Gesamtbevölkerung nicht stoppen

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Laut bisherigen Prognosen würden in Deutschland ohne Migration im Jahr 2030 etwa 3,7 Millionen weniger Einwohner leben, im Jahr 2060 gar 7,3 Millionen weniger. Der Fall ohne Zuwanderung diene nur als hypothetische Vergleichsgröße, erklärt Thum. Zuwanderung sei schlicht nicht wegzudenken. Auffallend aber ist, dass selbst eine Verdopplung der jährlichen Zuwanderung von 100.000 auf 200.000 Menschen den langfristigen Trend zur Bevölkerungsabnahme in Deutschland kaum aufhalten dürfte. Ein oder zwei Jahre mit den aktuell deutlich höheren Zuwandererzahlen würden das Schrumpfen der Gesamtbevölkerung ebenfalls nicht stoppen.

"Konkret lassen sich die Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung noch nicht berechnen", schränkt Thum ein. Zu viele Faktoren sind derzeit ungewiss. Die Berechnungen zur Migration stammen aus dem Jahr 2014, als der Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland so noch nicht zu erwarten war.

Befürchtungen vor Überfremdung sind statistisch nicht zu unterfüttern

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Einig sind sich Forscher darin, dass Zuwanderung nützlich, sogar notwendig ist: "Positiv wirken sich Zuwanderungen (etwa) auf die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials aus - wenn wir die Zuwanderer in den Arbeitsmarkt integrieren können. Die Zahl der Erwerbspersonen sinkt dann weniger stark". sagt Thum. Und: "Durch Zuwanderungen kann das Schrumpfen und das Altern der Bevölkerung gebremst werden", heißt es in der Studie. Auch hier jedoch bezweifelt Thum, dass die in diesem Jahr deutlich gestiegenen Flüchtlingszahlen für eine nachhaltige Verjüngung der Gesellschaft sorgen dürften. Zuwandererfamilien, etwa aus dem arabischen Raum, haben im Durchschnitt zwar deutlich mehr Kinder als etwa Familien in Deutschland, wenn sie sich hier ansiedeln. Doch das setze sich so nicht fort, wenn man einmal hierzulande Fuß gefasst habe, sagt Thum: "Schon die zweite Generation der Migrantenfamilien passt sich den hiesigen Verhältnissen an".

Der Blick in die Zahlen zeigt, dass Befürchtungen vor einer möglichen Überfremdung durch Flüchtlinge sich statistisch nicht unterfüttern lassen. Gleichwohl sind die Flüchtlingszahlen gewaltig und eine enorme Herausforderung mit Blick auf Unterkünfte, den Arbeitsmarkt, Schulen oder etwa Hochschulen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung schätzt, Unis und Fachhochschulen müssten sich noch in diesem Jahr auf 50.000 studierwillige Flüchtlinge einstellen. Laut statistischem Bundesamt waren in Deutschland zuletzt insgesamt knapp 2,7 Millionen Studenten eingeschrieben.