Essen. . Wegen der Inklusion müssen etliche Förderschulen schließen. Dabei möchten Eltern ihre behinderten Kinder oftmals gar nicht an Regelschulen schicken.
Kinder tummeln sich in dem gemütlichen Musikraum der Schule. Matratzen und Kissen liegen auf dem Boden, Instrumente stehen herum. Da schlägt die Lehrerin einen großen Gong an – die Luft vibriert. Nicole staunt und lächelt. Dann legt ihr die Lehrerin eine große Klangschale auf die Beine und gibt ihr einen Klöppel. Nicole schlägt gegen das Metall – das gibt einen klaren, hellen Ton. Die Elfjährige kichert: „Das kitzelt!“ Und versucht es gleich noch einmal.
Nicole trägt das Downsyndrom und besucht seit fünf Jahren die Traugott-Weise-Schule in Essen-Borbeck, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung. „Hier fühlt sie sich wohl, hat Freunde und macht Fortschritte“, sagt ihre Mutter, Monika Ziegelowska. „Diese Zuwendung und Ruhe würde sie an einer anderen Schule nicht finden. In einer normalen Klasse hätte sie Angst.“ Und dann sagt sie diesen Satz: „Nicole ist normal behindert.“
Die Eltern waren geschockt
Die Lehrer an der Schule kennen jeden ihrer Schüler, wissen, was er kann und wo er Hilfe benötigt, kennen die Lebens- und Krankheitsverläufe und stellen sich darauf ein. „Das kann eine Regelschule nicht leisten“, sagt die Mutter. Das politische Ziel, mehr Kinder mit Förderbedarf in Regelschulen zu unterrichten, wird dazu führen, dass es in Zukunft weniger Förderschulen geben wird. In den letzten Jahren wurden bereits zahlreiche Förderschulen geschlossen oder zusammengelegt.
Als eines der ersten Bundesländer haben in NRW seit August 2014 Schüler der ersten und fünften Klasse einen Rechtsanspruch auf Inklusion. Die Eltern haben demnach die Wahl, ob sie ihr Kind in eine Förder- oder eine Regelschule schicken. Echte Wahlfreiheit ist aber nur dann gesichert, wenn es wohnortnah eine Förderschule mit einem der Schwerpunkte „Lernen“, „Geistige Entwicklung“, „Sprache“, „Blinde“ oder „Kranke“ gibt. Unklar ist, wie viele Schulen die nächsten Jahre überleben werden. Bedroht fühlen sich vor allem die Förderschulen für lernbehinderte Kinder.
Eltern wählen gerne die Regelschule
„Für manche Eltern ist es schwer zu akzeptieren, dass ihr Kind in eine Förderschule gehen soll“, sagt Sandra Bouvelle, Leiterin der Traugott-Weise-Schule. Und sie erzählt von dem neunjährigen „Mädchen mit den dunklen Locken.“ Die Eltern waren schockiert, als sie in den Klassen Kinder im Rollstuhl sahen, oder Schüler, denen man ihre Behinderung ansah. Hier sollte ihre Tochter unterrichtet werden? Sie nahmen ihr Kind aus der Schule und meldeten es am Gymnasium an. „Sie erhofften sich, dass ihre Tochter dort eine normale Entwicklung nimmt“, erzählt die Lehrerin Julia Marunski. „Die Eltern wollten nicht verstehen, dass ihre Tochter ein anderes Lernumfeld benötigt. Aber jetzt sieht es so aus, als käme sie bald wieder zu uns.“
Für Eltern sei es oft verlockend, ihr Kind an eine Regelschule zu bringen, sagt Sandra Bouvelle. Doch die Frage sei, welche Bedingungen dort herrschen, wie kann das Kind gefördert werden? „Die Gymnasien haben doch gar nicht den Auftrag, individuell zu fördern, sondern Schüler zum Abitur zu führen“, sagt die Schulleiterin.
Probleme im Alltag
Den Alltag der betroffenen Kinder habe die Politik bei der Inklusion zu wenig im Blick. Wie kommen sie mit dem engen Stundentakt klar? Finden sie Freunde? „Am Anfang werden sie von der Klasse liebevoll aufgenommen, doch das ändert sich schnell“, weiß Julia Marunski. Was ist bei Klassenfahrten, wenn ein Schüler nachts noch Windeln benötigt? „Hier ist das normal.“
„Die Kernidee der Inklusion ist schön“, stellt Sandra Bouvelle fest. Doch sei das nicht für alle betroffenen Kinder das Richtige, man müsse sich immer die Frage stellen: Was nützt dem Kind? „Für sinnesgeschädigte Schüler, die etwa taub oder blind sind, ist eine Integration auch am Gymnasium möglich“, meint sie. „Bei einer geistigen Behinderung wird es schwierig.“ Julia Marunski ergänzt: „Wir können uns kümmern, einen behüteten Raum schaffen ohne Stress und Hektik. In der Regelschule gibt es klare Vorgaben, wann ein Kind was können muss.“ Viele Eltern seien zufrieden mit der Arbeit an der Schule, würden die Vorteile erkennen. In der Umsetzung der Inklusion sehen die Lehrerinnen Probleme. „Viele von uns haben das Gefühl, das ist ein Sparmodell, denn Förderschulen sind teuer“, fasst Julia Marunski die Stimmung im Lehrerzimmer zusammen.
Nicole ist müde. Sie legt Klangschale und Klöppel zur Seite und kuschelt sich an ihre Mutter. Sie sagt: „Nicole ist hier glücklich und zufrieden. Und ich bin es auch.“