Essen.. Immer mehr behinderte Kinder werden in Regelschulen unterrichtet. Zugleich steigt die Zahl förderbedürftiger Kinder. Experten rätseln über die Gründe.

Für Kinder und Jugendliche begann mit dem Inklusionsgesetz eine neue Zeit. Seit August 2014 darf niemand mehr gegen seinen Willen aus der allgemeinen Schule ausgeschlossen und in eine Förderschule geschickt werden.

Bei der Inklusionsquote gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern.
Bei der Inklusionsquote gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. © bertelsmann | Unbekannt

Für Kinder der 1. und 5. Klasse wurde der Unterricht an einer Regelschule zum einklagbaren Recht. An die Stelle von Ausgrenzung und Stigmatisierung tritt der inklusive Unterricht für behinderte und nicht-behinderte Kinder, jubelten Eltern- und Behindertenverbände.

Wie steht es heute um die Inklusion in den Bundesländern? Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm ging der Frage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung nach. Die Studie zeigt für NRW Licht- und Schattenseiten. „Das Ergebnis ist ambivalent“, findet Klemm.

Deutliche Steigerung in NRW

Demnach besuchte zum Schuljahr 2013/14 über ein Viertel aller Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule (28,9%). Damit liegt das Land etwas unter dem Bundesdurchschnitt (31,4%). Dennoch verzeichnete NRW bei der Inklusionsquote eine deutliche Steigerung. Im Schuljahr 2008/09 wurden nur gut zwölf Prozent der betroffenen Kinder an einer Regelschule unterrichtet.

Was indes verwundert: Wenn mehr Kinder mit Förderbedarf eine allgemeine Schule besuchen, müsste zugleich die Zahl der Schüler an Förderschulen zurückgehen. Überraschenderweise geschieht dies nicht. Die Zahl der Schüler an Förderschulen sinkt so gut wie gar nicht. Ihr Anteil an allen Schülern (Exklusionsquote) ist nur gering von 5,2 auf 5,1 Prozent gesunken.

Kaum weniger Förderschüler

Wie lässt sich das erklären? „Es gibt eine Steigerung bei den förderbedürftigen Kindern“, sagt Klemm. So stieg die Quote förderbedürftiger Schüler an allen Schulen in den vergangenen fünf Jahren in NRW von 6,0 auf 7,1 Prozent. Warum das so ist, wurde bisher nicht erforscht, bedauert Klemm. Haben womöglich heute mehr Kinder Probleme als früher? Dies hält Klemm für wenig plausibel.

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Für stärker hält er die Erklärung, dass bei immer mehr Kindern ein Förderbedarf festgestellt wird. Seine Hypothese: Dies könnte unter anderem mit den Regeln zusammen hängen, nach denen die Bundesländer Geld und Personal an die Schulen verteilen. Demnach sind Mittelzuweisungen an allgemeinbildende Schulen an die Zahl der förderbedürftigen Kinder geknüpft, erklärt der Bildungsforscher. „Das heißt: Wenn bei zusätzlichen Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird, erhält sie mehr Ressourcen. Das ist ein problematisches Anreizsystem.“ Die Schule könne aber nicht eigenmächtig Kinder als förderbedürftig einstufen, dafür sei die Zustimmung der Eltern nötig.

Eltern stimmen oft zu

„Für viele Eltern ist es aber verlockend, im Zweifel eine solche Diagnose zu akzeptieren.“ Denn dies vermeidet einen schwierigen Schulwechsel und den Stempel „Förderschule“ im Lebenslauf des Kindes. Es kann in der alten Schule und im vertrauten Klassenverbund bleiben. Nach Klemms Auskunft hat die Landesregierung das Problem erkannt und plant, diese Regelung zu ändern. Demnach werde den Schulen in Zukunft nach einem bestimmten Schlüssel ein festes Budget für die sonderpädagogische Betreuung zugewiesen.

Insgesamt verlaufe die Entwicklung der Inklusion positiv, zieht Klemm eine erste Bilanz. Aber: „Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist es eigentlich, die Zahl der Schüler, die gesondert unterrichtet werden, zu senken. Das ist noch nicht gelungen.“

Lehrerverband warnt vor "Desaster" an Schulen

Der Lehrerverband VBE nahm die am Donnerstag vorgelegte Inklusionsstudie zum Anlass, auf die aus seiner Sicht gravierenden Probleme an den Schulen hinzuweisen. „Die Rahmenbedingungen an den Schulen stimmen absolut nicht“, sagte VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann. Ohne das besondere Engagement der Lehrer seien die zum Teil guten Quoten, die in der Studie genannt werden, nicht möglich.

Die Umstellung auf inklusiven Unterricht sei zu schnell gekommen, die Lerngruppen zu groß, und es gebe zu wenig Unterstützung durch Sonderpädagogen. Beckmann: „Wer sonderpädagogische Qualität an Regelschulen sicherstellen will, der benötigt kleinere Lerngruppen, Schulgebäude, deren Räume Differenzierung ermöglichen, und personelle Doppelbesetzung.“ In Förder- und Regelschulen bahne sich ein „Desaster“ an.

Der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Matthias Löb, erinnerte im Gespräch mit dieser Zeitung daran, dass es bei der Inklusion um viel mehr gehe als um gemeinsamen Unterricht. „Inklusion umfasst alle Lebensabschnitte und Lebensorte. Von der Kita über die Schule bis zum Arbeitsplatz.“ Allein in Westfalen-Lippe lebten mehr als 22 000 Menschen mit schweren Behinderungen, die Arbeit suchen. Von den Förderschülern mit geistigen Einschränkungen schafften nur ein bis zwei Prozent den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt, so Löb. Von einer umfasssenden Teilhabe von Behinderten am gesellschaftlichen Leben sei man noch weit entfernt.