Berlin. In den Flüchtlingslagern rund um das Bürgerkriegsland Syrien leben Menschen seit Jahren in Provisorien. Ihre Hoffnungen auf eine Rückkehr sinken.

Die Zeit drängt: Eine inter­nationale Milliardenspritze soll den Massenexodus aus den syrischen Flüchtlingscamps im Nahen Osten verhindern – feste Zusagen aber ­fehlen noch. Dabei wächst in den Lagern rund um Syrien die Jetzt-oder-nie-Stimmung von Tag zu Tag. „Eine Liege in einer deutschen Turnhalle ist allemal besser als ein Zelt in einem jordanischen Flüchtlingslager“, beschreibt der World ­Vision-Sprecher Dirk Bathe die ­Gefühlslage. Der Leidensdruck und der Willkommensruf von „Mama Merkel“ haben eine unkalkulier­bare Dynamik ausgelöst.

Grundversorgung bricht zusammen

An diesem Montag reist Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel nach Jordanien – zu Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Die Situation unter den Flüchtlingen verschärft sich von Tag zu Tag: Die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Syrien hat sich für die meisten ­erledigt, die Ersparnisse sind auf­gebraucht, auch die internationale Hilfe wird knapp.

Das UN-Welternährungsprogramm musste die Lebensmittelhilfe drastisch kürzen und zum Teil komplett streichen. 5,5 Milliarden Dollar hatte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR für die Arbeit in der Region in diesem Jahr veranschlagt; bislang stehen ­gerade 40 Prozent der notwendigen Gelder zur Verfügung – die Geberländer zahlen zu wenig.

Kinder leiden besonders unter dem Notstand

In vielen Regionen bricht laut UN-Beobachtern die Grundver­sorgung zusammen. „Erwachsene können längere Hungerphasen wegstecken, aber die Mangeler­nährung der Kinder erhöht den Druck, die Lager zu verlassen“, sagt World Vision-Sprecher Bathe. Unter den Flüchtlingen macht sich Verzweiflung breit – gleichzeitig ­sehen die Menschen die Bilder von Freunden und Verwandten, die sich bis nach Deutschland durchschlagen konnten: Die Fluchtwelle wirkt wie ein Magnet.

Wer nach Jahren im Exil kein Geld mehr für Schleuser hat, macht sich auf eigene Faust auf den Weg. Die Kinderhilfsorganisation World Vision kümmert sich auf dem ­Balkan inzwischen um etliche ­Jugendliche, die sich ganz allein zu Fuß aus Jordanien bis nach Mazedonien durchgeschlagen haben.

Vereinte Nationen fordern dauerhafte Hilfsleistungen für die Lager

Vor dem EU-Flüchtlingsgipfel am Mittwoch fordert Wirtschaftsminister Gabriel ein fünf Milliarden Euro schweres Hilfspaket, finanziert von der EU, den USA und den Golf­staaten. Die UN-Flüchtlingsex­perten begrüßen das – warnen aber zugleich: „Es darf keine einmalige Notspritze sein, das Geld muss dauerhaft fließen.“ 700 000 syrische Flüchtlingskinder haben 2014 keine Schule besucht – in den Lagern droht eine ganze Generation ver­loren zu gehen.

Auch Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) ist alarmiert: In den letzten Monaten hätten sich ­bereits fünf Prozent der syrischen Flüchtlinge aus den Lagern in Jordanien, im Libanon und der Türkei auf den Weg nach Europa gemacht. Die restlichen 95 Prozent müssten vor Ort besser versorgt werden. Viele ­sähen sonst keine andere Chance, als „zu uns zu kommen“.

Die Bundesregierung will syrische Flüchtlinge im Nahen Osten mit einer Soforthilfe von 20 Millionen Euro unterstützen. Das UN-Welternährungsprogramm könne mit der Summe rund 500 000 Flüchtlinge in der Region drei ­Monate lang mit Nahrungsmitteln versorgen, heißt es. Laut UNHCR sind jedoch insgesamt allein rund vier Millionen syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern registriert.

Zehntausende sind auf dem Weg

Im Irak haben sich nach UN-Angaben bereits Zehntausende ­Menschen auf den Weg nach Eu­ropa gemacht – es sind vor allem Binnenvertriebene, die innerhalb des Landes vor den Terrormilizen des IS geflohen waren.

Doch es geht längst nicht mehr nur um Flüchtlinge aus den Krisenstaaten des Nahen Ostens. Unter die Gruppen, die zuletzt über die Balkanroute versuchten, in Richtung Deutschland zu kommen, mischen sich laut Beobachtern zunehmend Menschen, die keine Kriegsflüchtlinge sind, aber im Sog der neuen Fluchtwelle auf ein besseres Leben in Europa hoffen.

Sie kommen aus dem Iran, aber auch aus zentralasiatischen Staaten mit repressiven Regierungen und großer Armut. „Die Menschen verfolgen die Nachrichten in den sozialen Netzwerken und sehen auf einmal eine Chance auf ein besseres Leben“, sagt World Vision-Sprecher Bathe. „Dass sie sich jetzt auf den Weg machen, ist zu erwarten.“