Essen. . Auf Landstraßen passieren anhaltend viele tödliche Unfälle. Forderungen nach einem geringeren Tempolimit nehmen zu. Auch der ADAC schließt sich an.
Der tödliche Trend bricht nicht ab. Das Statistische Bundesamt hat die Verkehrsunfälle der ersten fünf Monaten diesen Jahres analysiert. Bei 109.431 Unfällen starben 1244 Menschen. Auf den Landstraßen alleine waren es 339. Das ist mehr als ein Viertel, und wer den Mai diesen Jahres mit dem von 2014 vergleicht, sieht eine enorme Steigerung von 78 auf 92 Landstraßen-Tote für diesen Monat. Keine neue Entwicklung: Rasen und riskante Überholmanöver sind außerhalb geschlossener Ortschaften alltäglich, und in den letzten 20 Jahren kamen 22.000 Pkw-Insassen und Motorradfahrer nur beim Aufprall ihrer Fahrzeuge auf Bäume um.
Experten sind zunehmend überzeugt: Mit Tempo 80 statt Tempo 100 als Höchstgeschwindigkeit außerorts kann die „Todesfalle Landstraße“ entscheidend entschärft werden. „Das ist kein Allheilmittel“, wehrt zwar Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) die Vorstöße ab. Doch der Druck auf die Bundesregierung, die ablehnende Haltung zu korrigieren, nimmt zu.
Mehr Tote auf Landstraße als 2014
Dazu tragen auch die Unfallzahlen des ganzen ersten Halbjahres bei. Sie sind wieder gestiegen. 1593 Menschen sind zwischen Januar und Juni bundesweit auf den Straßen umgekommen. 22 Tote mehr zählen die Statistiker gegenüber gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Damit gerät das politische Ziel der großen Koalition in Gefahr, die Anzahl der Getöteten im deutschen Straßenverkehr von 2010 bis 2020 um 40 Prozent zu senken.
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Tempolimits gehören zu den besonders heiklen Streitfragen in der Gesellschaft. In den 70er Jahren machte sich der mächtige ADAC für „freie Fahrt für freie Bürger“ stark – und bremste ein generelles Höchsttempo auf Autobahnen aus. Jetzt kommt ausgerechnet aus dieser Ecke Verstärkung. Der Automobilclub will sich in die ohnehin schon starke Phalanx der 80-Befürworter aus Verkehrsgerichtstag, Verkehrssicherheitsrat, Versicherer und Polizeigewerkschaftler einreihen.
ADAC besorgt über riskante Fahrweisen auf Landstraßen
Noch fehlt eine endgültige Festlegung. Sie wird intern diskutiert. Aber die ADAC-Führung „unterstützt unpopuläre und einschneidende Maßnahmen, solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt“, heißt derzeit die Sprachregelung. Der Club beobachte „mit Sorge, dass manche Autofahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit als Mindest- und Soll-Geschwindigkeit interpretieren und sich und andere zum Beispiel durch gefährliche Überholmanöver gefährden“.
Besonders gefährliche Landstraße in NRW
Welche Landstraßen sind in NRW besonders gefährlich? Der ADAC hat bei seinen Mitgliedern die Antworten auf diese Frage erbeten. Landesweit haben sie zahlreiche riskante Ecken ausgemacht, die vor allem durch Zustands-Mängel auffallen.
In Essen die Laupendahler Landstraße zwischen Werden und Kettwig, wo Bankette weggebrochen sind, Markierungen fehlen, Schlaglöcher behindern.
An vier Schwerpunkten im Kreis Unna, wo die Abschnitte zwischen Geiseke und Dellwig, Fröndenberg und Frömern, Fronhausen und Siddinghausen und Bönen und Rhynern im Prinzip „marode“ seien.
Auf den Landstraßen 839 und 914 im Hochsauerlandkreis mit „dringendem Sanierungsbedarf“ und zwei Mal im Märkischen Kreis, rund um Altena.
Den Kurswechsel unterstützt eine interne, repräsentative Umfrage unter 800 Club-Mitgliedern. Anders als noch vor fünf Jahren haben dabei 61 Prozent ein klares Ja zu Tempo 80 zumindest „auf schmalen, kurvigen Landstraßen“ gesagt. Ähnlich dürfte die Argumentationslinie des Clubs am Ende verlaufen. Auch einem generellen Überholverbot auf unübersichtlichen Strecken mit der durchgezogenen Mittellinie als klares Signal an die Fahrer lehnt er nicht ab.
"Weitaus größter Teil der NRW-Landstraßen nicht für Tempo 100 geeignet"
Die Richter, Anwälte und Staatsanwälte vom Verkehrsgerichtstag gehen seit ihrem Goslarer Kongress im Januar am weitesten. Sie setzen sich für Tempo 80 als „Regelgeschwindigkeit“ ein - und nur dort für Ausnahmen, wo Land- und Bundesstraßen besonders gut ausgebaut sind. Arnold Plickert, Vize der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und deren Verkehrsexperte, unterstützt die Position: „Der weitaus größte Teil des Landstraßennetzes ist nicht für Tempo 100 geeignet“.
Wissenschaftliche Untersuchungen stützen den Handlungsbedarf. Die Unfallforschung der Deutschen Versicherer hat durch die „Dekra“ auf einem Testgelände in Neumünster nachweisen lassen, wie die gefürchteten Baumkollisionen wirken. Schon beim seitlichen Aufprall mit 40 km/h dringt der Baum 40 Zentimeter tief in die Karosserie ein. Schwerste Verletzungen und Tod können die Folge sein. Beim Aufprall mit Tempo 97 werde das Fahrzeug „regelrecht zerrissen“ - ohne jede Überlebenschance für die Insassen.
Tempo 100 auf Landstraßen nur noch in Deutschland und Österreich
50 bis 80 Prozent der Baum-Unfälle könnten vermieden werden, sagen die Experten, wenn, wie es der Berliner Unfallforscher Siegfried Brockmann formuliert, „auf schmalen Landstraßen höchstens Tempo 80 erlaubt ist“. Für zusätzlichen Schutz sorgten Verzicht von Neubepflanzungen, Schutzplanken vor den Bäumen und ein Unterfahrschutz für Motorradfahrer. Allerdings gibt es auch Forderungen an die Adresse der Straßenbauer selbst. So gelten so genannte „Hundekurven“ - Kurven, die sich zunehmend verengen – unter den Sicherheitsfachleuten als „No Go“.
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Auf der politischen Seite stehen hinter den gemeinsamen Tempo 80-Forderungen der Experten bisher nur die Grünen. Aber Regionalpolitiker aus SPD und auch Union aus dem ländlichen Raum zeigen Sympathie, weil es in ihren Wahlkreisen die meisten Todesfälle gibt. Und dann ist da noch der Hinweis auf das übrige Europa: Neben Deutschland erlaubt nur Österreich 100 Stundenkilometer. Tempo 80 oder 90 ist überall sonst Standard.