Brüssel. Fromme Worte, keine Taten: Wenn es um die Frage der Flüchtlinge geht, ist die europäische Solidarität schnell dahin. Viel zu tun für Merkel & Co.

Die Kanzlerin wiederholt es bei jeder Gelegenheit, fast alle in Brüssel stimmen zu: Die Flüchtlingskrise ist ein europäisches Problem. Soll heißen: Die Menschen, die in immer größerer Zahl übers Mittelmeer oder auf der ­Balkanroute zu uns kommen, wollen vielleicht lieber nach Schweden oder Deutschland als nach Bulgarien oder in die Slowakei.

Vor allem aber wollen sie in die Wohlstands- und Friedenszone Europa, raus aus Bürgerkrieg, Verfolgung, Armut. Deshalb müsse die Europäische Union das Problem gemeinsam lösen, human gegenüber den Schutzsuchenden, solidarisch untereinander. Fromme Worte.

Denn die Europäische Union bringt die politische Kraft nicht auf, das was sie predigt, auch in die Tat umzusetzen. Die verstörenden Berichte über schiffbrüchige Flüchtlinge im Mittelmeer – mindestens 2300 sind nach Zahlen der Internationalen Organisation für Migration dieses Jahr bereits ertrunken – hatten im Frühjahr den Staats- und Regierungschefs der EU ein feierliches Bekenntnis zu entschlossenem Handeln abgenötigt.

Nationaler Egoismus sorgt für Streit

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Doch die seither steil ansteigenden Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen haben das Gelöbnis rasch in nationalem Egoismus aufgelöst. Im Juli registrierte die EU-Grenzwache Frontex mehr als 107.000 Personen beim Versuch, auf EU-Gebiet zu gelangen – dreimal so viele wie im Vorjahr.

Die Mitgliedstaaten zanken um die Verteilung und Registrierung der Ankömmlinge. Der Süden ­fordert mehr Hilfe, die Balten ­drücken sich leise in die Ecke. Die Ungarn errichten an der Grenze zu Serbien einen mächtigen Zaun, Briten und Dänen verweisen auf ihren Sonderstatus außerhalb der EU-Innenpolitik.

Wenn es um die Aufnahme der lästigen Zuzügler geht, ist es mit der Gemeinschaft schnell vorbei. Auf dem EU-Gipfel im Juni brüllten die Chefs sich an. „Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, könnt ihr es behalten!“, blaffte Italiens erboster Regierungschef Matteo Renzi.

Schäbige Realität: Das „Dublin-Verfahren“

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Der Widerspruch zwischen ­imposanter Überschrift und schäbiger Realität ist nicht neu. Seit einem Gipfel im finnischen Tam­pere 1999 versteht sich die EU als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, in dem der Umgang mit Asylbewerbern gemeinschaftlich geregelt werden sollte.

Tatsächlich haben sich die Mitgliedstaaten indes Spielregeln gegeben, die weder praktisch noch solidarisch sind: Um einen Flüchtling muss sich laut dem „Dublin-Verfahren“ das Land kümmern, in dem er zuerst EU-Boden betritt. Dort hat ein Asylbewerber seinen Antrag zu stellen, dort müssten die Behörden darüber befinden. Fair ist anders – das Prinzip begünstigt die Länder ohne EU-Außengrenze und bürdet denen an der Peri­pherie die Hauptlast auf.

Die Randstaaten im Süden sind überfordert

Jedenfalls, solange alles mit rechten Dingen zugeht. Tut es aber nicht: Die Randstaaten im Süden nehmen es mit der Registrierung der Ankömmlinge nicht so genau, lassen sie gern auch ohne die vorgeschriebene Abnahme von Fingerabdrücken nach Norden weiterziehen – Schengen macht’s möglich.

Griechenland ist sogar offiziell – laut Beschluss europäischer Gerichte – zur ordnungsgemäßen und menschenwürdigen Aufnahme der Zufluchtsuchenden nicht in der Lage. So sind neben den Mittelmeerländern auch Deutschland, Schweden, Ungarn und selbst der EU-Binnenstaat Österreich vom Andrang besonders betroffen.

Merkel für Reform des Aufnahme-Systems

Die Pläne von EU-Kommissionschef Juncker für eine ausgewoge­nere Verteilung der Lasten sind im ersten Anlauf auf halber Strecke stecken geblieben. Von einem verpflichtenden Schlüssel wollte die Mehrheit der Regierungen nichts wissen. Statt der angepeilten 60.000 kamen für das Ansiedlungsprogramm nur 55.000 Plätze für Asylbewerber und Flüchtlinge zusammen.

Dennoch will die Kommission ihre „Migrationsagenda“ im Herbst vorantreiben, mit mehr Unterstützung der Ankunfts­staaten Italien und Griechenland, mit robustem Einsatz gegen das Schlepperwesen und durch Verständigung über eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer.

Bundeskanzlerin Angela Merkel („Die Flüchtlingsfrage ist in der EU die größte Herausforderung in ­meiner Amtszeit“) hat zudem die Reform des Dublin-Systems auf die Agenda gesetzt.