London. . Die Mitglieder der Labour-Partei stimmen demnächst über ihren neuen Vorsitzenden ab. Große Chancen auf den Chefposten hat der Linke Jeremy Corbyn.

Die Monarchie abschaffen? Aus der Nato austreten? Die ­Produktionsmittel verstaatlichen? Solch radikale Maßnahmen könnten demnächst zur offiziellen Politik der größten britischen Oppo­sitionspartei werden. Labour sucht nach einem neuen Vorsitzenden und es sieht ganz danach aus, dass der Linksausleger Jeremy Corbyn der nächste Parteichef wird. Jetzt gingen die Wahlzettel an die Mitglieder hinaus, verkündet wird das ­Ergebnis am 12. September. Und die Partei bereitet sich auf die größte Zerreißprobe ihrer Geschichte vor.

In letzter Minute

Jeremy Corbyn, 66 Jahre alt, Vege­tarier, Anti-Alkoholiker und Alt-Linker, ist die große Überraschung dieses Wahlkampfs. Auf die Liste der Kandidaten gelangte er erst in letzter Minute. Die allerwenigsten unter den nominierungsberechtigten Labour-Abgeordneten sahen in ihm einen erfolgreichen Bewerber und stellten ihn nur deshalb auf, um die innerparteiliche Debatte aus­zuweiten.

Doch an der Basis erhielt Corbyn eine überwältigende Unterstützung. Nach der letzten Umfrage konnte er seine Führung kräftig ausbauen und liegt jetzt mit 32 Prozent vor dem nächst platzierten Kandidaten ­Andy Burnham. Damit könnte Corbyn das Rennen bereits im ersten Durchgang gewinnen.

Corbyn bringt der paralysierten Partei neue Mitglieder

Labour hatte im Mai einer der größten Wahlschlappen der Nachkriegszeit eingefahren. Die Parlamentsfraktion wirkt traumatisiert. Die Führungsspitze der Arbeiterpartei ist personell ausgeblutet, die drei Kandidaten außer Corbyn – neben Andy Burnham noch Yvette Cooper und Liz Kendall – gelten als farblos. Politische Kleinkaliber.

Der einzige Lichtblick: Seit dem Wahldebakel erlebt die Partei einen Zustrom von neuen Mitgliedern. Rund 190 000 Bürger haben sich als Labour-Unterstützer registrieren lassen und bekommen damit eine Stimme bei der Chef-Wahl. Und mehrheitlich begeistern sie sich offensichtlich für Corbyn. Das ist jedenfalls bei den zahlreichen Kundgebungen zu beobachten, bei denen der Abgeordnete für Islington North wie ein Rockstar gefeiert wird. Medien sprechen von „Corbynmania“, der Mann mit dem grauen Haar und kurz geschnittenen Vollbart gilt bereits als Sexsymbol.

Heftige Attacken

Für das Partei-Establishment ist ­diese Entwicklung ein Schock. ­Wessen Herz für Corbyn und dessen altlinke Politik schlage, „braucht eine Transplantation“, giftete der Ex-Premier Tony Blair. Andere Parteigranden warnen, der neue Chef werde Labour zu einer britischen Version von Syriza oder Podemos machen.

Doch es sieht ganz danach aus, als ob die Genossen an der Basis genau das wollen: einen britischen Tsipras. Corbyn punktet mit Attacken gegen die Austeritäts­politik der konservativen Regierung. Er verdammt sie als „eine ­Tarnung, um die Gesellschaft umzu­gestalten und die Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu vergrößern“. Der Parteichef in spe will eine ­Streichung von Subventionen und Steuererleichterungen für Unternehmen in der Größenordnung von 93 Milliarden Pfund durchsetzen und verlangt stattdessen einen „großen Anstieg“ bei den öffentlichen Ausgaben und Investitionen.

„Uns geht es um Ideen“

Dieses linke Programm dürfte ­Labour auf Jahre hinaus für viele ­unwählbar ­machen, was allerdings die Mehrheit der Corbyn-Anhänger nicht stört. „Wählbarkeit ist nicht das wichtigste“, erklärte Rockstar Brian Eno, „wichtig ist, dass jemand die Konversation ändert.“ Und ­Corbyn selbst unterstrich: „Uns geht es um Ideen. Diese Bewegung hat mit Hoffnung zu tun.“